Zuerst erschienen in "Bergwinkel-Bote. Heimatkalender 1979", S. 59-63.
Wer von der „guten alten Zeit“ spricht, vergisst dabei oft das Los der Kranken. Bestanden schon im verkehrsreichen Kinzigtal auf dem Gebiete der Heilfürsorge mangelhafte Zustände, so war die Lage im abseitsgelegen Amt Schwarzenfels noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geradezu trostlos. Es gab nur einen einzigen Arzt, den hochgeschätzten Dr. Brehm in Schwarzenfels.
Welch ein Segen war es daher, als Dr. August Koch, der Sohn des Amtwundarztes Dr. Ludwig Koch in Schlüchtern, sich 1888 in Sterbfritz niederließ. Vielleicht war Lina, die schöne und energische Tochter des Weichersbacher Salzverwalters und Pottaschensieders Auffahrt, seine spätere Frau, der Grund, vielleicht lockten den leidenschaftlichen Jäger die wildreichen Jagdreviere der Sterbfritzer Umgebung, aber bestimmt trug auch der Mangel an ärztlicher Versorgung zu seinem Entschluss bei, zumal der alternde und kränkelnde Dr. Brehm kaum noch den großen Bereich betreuen konnte. Der ausgedehnte Bezirk sorgte für reichlich Arbeit und viele schlaflose Nächte, da die Geburtshilfe die Hauptaufgabe seiner Praxis ausmachte.
Beförderungsmittel der damaligen Zeit waren ausschließlich die Pferde, und als ausgezeichneter Reiter machte er sich zunächst beritten, später kamen dann mehr oder weniger bequeme Kutschwagen hinzu, in denen er, bei Kälte in seinen dicken Pelzmantel gehüllt, Tag und Nacht unterwegs war.
Einrichtungen wie Krankenkassen kannte man damals noch nicht, und die zur Verfügung stehenden Heilmittel waren so primitiv, dass der Tod bei einigen epidemisch auftretenden Krankheiten reiche Ernte hielt. In den 80er Jahren raffte die Diphtherie fast ganze Jahrgänge hinweg, und im Jahr 1882 erreichten z. B. in Sterbfritz von 25 Neugeborenen eines Jahrgangs nur 2 das Konfirmationsalter. Der Arzt wurde nur im äußersten Notfall zu Hilfe gerufen, da ei privat bezahlt werden musste und die Bevölkerung arm, bis auf wenige Ausnahmen sehr arm war. Der ärztlichen Sprechstunde kam im Gegensatz zu heute nur untergeordnete Bedeutung zu, und die wenigen Patienten wurden aus Zeitmangel während des Mittagessens abgefertigt. Nächtliche Besucher mussten manchmal zu dem übermüdeten Doktor ans Bett kommen, um ärztliche Rat und Rezept zu erhalten. Knochenbrüche wurden auf Holzschienen gelagert, da man die Methode der Gipsverbände nicht kannte, ebenso wenig die bequeme Fertigpräparate. Pulver, Arzneien und Pillen mussten vom Arzt zusammengestellt und von dem damals in Sterbfritz erstmalig niedergelassenen Apotheker Körner angefertigt werden.
Anfang des 20. Jahrhunderts ließ sich in Sterbfritz ein zweiter Arzt, Dr. Hebel, nieder, der es aber nur wenige Jahre aushielt.
Im ersten Weltkrieg musste Dr. Koch die Praxis wieder allein ausüben, dazu mit minderwertigem Pferdematerial und Aushilfspersonal, eine schwere Zeit für den schon alternden und ziemlich wohlbeleibten Mann.
Inzwischen war die Familie Koch auf 10 Personen angewachsen: 8 Kinder, davon 6 Söhne, die alle studierten und als Ärzte, Juristen und Apotheker bis auf den Jüngsten , Paul („das Paulje“), das Elternhaus verlassen hatten. Letzter hat seinem Heimatdorf, in dem er bis zu seinem 14. Lebensjahr die Volksschule besuchte, die Treue gehalten. Nach privater Vorbildung kam er 1915 in das Humanistische Gymnasium in Fulda. Voller Lob spricht er von seinen Sterbfritzer Volksschullehrern Schüler, Hellmann, Elm, Schröder und Mehler, und voller Dankbarkeit gedenkt er des Sterbfritzer Pfarrers Sartorius und des Sannerzer Kaplans Kind, die dem Arztsohn das Wissen in Latein, Griechisch, Französisch und Mathematik vermittelten, so dass er von Sterbfritz aus in die Untersekunda des Gymnasiums eintreten konnte.
Seine Schulzeit wurde durch den Ersten Weltkrieg und einen schweren Jagdunfall mit Verstümmelung seiner Hand unterbrochen, so dass er, nur garnisondienstfähig, sein Medizinstudium nach abgelegter Reifeprüfung im Krieg aufnehmen und nach Besuch der Universitäten Frankfurt/Main, Würzburg und Jena beenden konnte (1923). Danach folgte eine sehr lehrreiche Assistenzzeit an der Charité in Berlin unter dem bekannten Professor His.
1924 kam er nach Sterbfritz zurück, um seinen Vater in der Praxis zu helfen.
Es war ein recht ausgedehnter Bezirk geworden, der sich nach der einen Seite hin bis Züntersbach und Oberzell, teilweise bis Heubach und Uttrichshausen, nach der anderen bis Gundhelm ausdehnte. Dazu kamen Altengronau, Jossa und Mittelsinn, die zu dem Bahnarztbereich des älteren Dr. Koch gehörten. Mehr als genug Arbeit für die beiden, trotzdem sich nach dem Krieg wieder ein zweiter Arzt, Dr. Both, in Sterbfritz niedergelassen hatte.
Auch trotz der inzwischen entstandenen Krankenkasse war die Vermögenslage der Ärzte schlecht. Da nur die wenigen im Walde und in der spärlichen Industrie Beschäftigten versichert waren, betrug das Jahres-Kassenhonorar ca. 400 Mark, und die Ersparnisse für die alten Tage waren durch Kriegsanleihen völlig geschwunden. So musste die Landwirtschaft, die das Ehepaar Koch schon seit Jahrzehnten nebenher betrieb, wieder wie in früheren Jahren, als die Kinder noch jünger waren und die Einnahmen oft den Ausgaben nicht standhalten konnten, mithelfen, den Unterhalt zu sichern. Auch die Jagd in den damals so wildreichen Revieren hat nicht unwesentlich zur Erhaltung der Familie beigetragen.
1926 starb Dr. August Koch. Inzwischen hat sich viel geändert.
In Schlüchtern wirkte der weit über die Grenzen des Kreises bekannte und beliebte Chirurg und Geburtshelfer Dr. E. Clement in dem von der Freifrau von Stumm gestifteten hochmodernen Krankenhaus. Bald stand auch ein Krankenwagen vom Roten Kreuz zur Verfügung, so dass endlich auf den mittelalterlichen Transport der Schwerkranken im Leiterwagen mit Pferd auf Stroh und Decken bis zum früheren nächsten Krankenhaus in Fulda (!) verzichtet werden konnte. Die ärztlichen Verhältnisse waren trotz der beschriebenen Verbesserungen weiterhin recht schwierig, die Bevölkerung durch den Krieg noch mehr verarmt und z.T. abergläubisch wir im Mittelalter. Eine gelbe Rübe im Rauchfang sollte gut gegen die Gelbsucht sein oder eine in der Geisterstunde vergrabene Nachgeburt sollte das Neugeborene von einem Muttermal befreien. „Weise“ Frauen und Scharlatane aller Art trieben ihr Unwesen.
Weder die Bevölkerung noch die Krankenkassen konnten sich kostspielige Röntgen-Untersuchungen leisten, und so blieben außer der Geburtshilfe auch die kleine und mittlere Chirurgie dem Hausarzt überlassen. Die inzwischen bekannt gewordene Gipstechnik ermöglichte es dem Landarzt, nun auch schwierige Knochenbrüche erfolgreich zu behandeln, was oft zu den grotesken Bilder der am Lampenhaken mitten in der Stube aufgehängten Gipsbeine führte.
Die hygienischen Verhältnisse dieser Zeit waren oft unter jeder Kritik und die rachitischen Veränderungen der weiblichen Becken durch das Fehlen von Vitaminen in Verbindung mit der ungesunden Lebensweise waren ein wahres Kreuz für den Geburtshelfer. Die völlige Hilflosigkeit bei schweren Erkrankungen (Insulin, Penicillin oder dergl. waren unbekannt) konnte dem Arzt manchmal das Leben zur Hölle machen. Flöhe gab es wie Sand am Meer (sie verschwanden später fast völlig durch eine Flohseuche), dagegen waren Wanzen verhältnismäßig selten, sie schreckten in Einzelfällen aber nicht davor zurück, sich in wohlgehüteten gefensterten Gipsverbänden zu etablieren und es soll auch vorgekommen sein, dass der Arzt bei Eröffnung alter Verbände fette Schmeißfliegenlarven vorfand.
Nach dem Tode seines Vaters hatte sich Dr. Paul Koch nach kurzen Versuchen mit einem „Drahtesel“ nach des Vaters Vorbild ein Reitpferd gekauft (das nach den Hänseleien seiner Freunde mehr auf Wechsel als auf seinen Beinen lief), und mit den Instrumenten in den Satteltaschen legte er Tag für Tag und auch des Nachts auf der braven „Elsa“ seine Kilometer zurück. Ende der zwanziger Jahre wurde das Pferd von dem mehr oder weniger gehwilligen Auto abgelöst, eine berufliche Notwendigkeit.
Es folgten erfreulichere Jahre: Hochzeit mit der viel jüngeren charmanten Anny, geb. Busse-Meyer, Waise aus dem 1. Weltkrieg, und die Familie wuchs schnell auf 6, später 7 Köpfe. Erst die Wogen des Zweiten Weltkrieges mit ihren schrecklichen Folgen und das furchtbare Dilemma des „tausendjährigen Reiches“ warfen den beinahe Fünfzigjährigen wirtschaftlich fast auf den Ausgangspunkt zurück, und Frau und Kinder mussten während seiner Abwesendheit in aufopferungsvoller Weise selbst – mit einer treuen Helferin – für ihren Unterhalt sorgen. Danach ein Wiedersehen mit erfreulicheren Aussichten. Das entdeckte Insulin sowie das Penizillin erleichterten dem praktischen Arzt seine Arbeit ganz außerordentlich, und die verbesserte Organisation des Krankenkassenwesens trug ihrerseits zur Förderung der ärztlichen Tätigkeit bei. Außerdem wird der Bereich des früheren Amtes Schwarzenfels jetzt von sieben und mehr Ärzten versorgt.
Dr. Paul Koch hat 1977 nach mehr als fünfzigjähriger ärztlicher Tätigkeit die Kassenpraxis niedergelegt, während sein Sohn Dr. Ernst Jochen Koch die ärztliche Tradition mit einer modernen Allgemeinpraxis in Schlüchtern fortsetzt, was dem Vater Gelegenheit gibt, ihn noch heute im Erholungsurlaub zu vertreten.
Nach Angaben von Dr. Paul Koch, Sterbfritz
Anmerkungen 2018:
Dr. Paul Koch verstarb im Oktober 1998 100-jährig. Die Praxis seines Sohnes in Schlüchtern ist mittlerweile geschlossen.