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Sterbfritzer Dorfchronik
Sterbfritzer Dorfchronik

Die Kinderlandverschickung 1944 nach Sterbfritz

45 Frankfurter Schülerinnen und Schüler „umquartiert“ in unser Dorf

von Ernst Müller-Marschhausen

 

Als Anfang 1944 die alliierte Luftwaffe Frankfurt Tag und Nacht bombardierte, verfügten der Oberbürgermeister und die NSDAP-Gauleitung die Schulen zu schließen und die Kinder und Jugendlichen in „luftsichere Reichsteile“ zu evakuieren. Mit dieser Aktion folgte Frankfurt vielen anderen deutschen Großstädten, die schon früher Ziele des vornehmlich auf die Zerstörung städtischer Wohngebiete gerichteten alliierten Luftkriegs waren und deshalb ihre Kinder und Jugendlichen in Sicherheit „aufs Land“ brachten. Die reichsweite Maßnahme lief seit der Anordnung der Reichsregierung im Jahr 1940 unter der Bezeichnung „Kinderlandverschickung“.

 

Zerstörtes Frankfurter Ostend mit Uhlandschule 1944. Photo: Stadtarchiv Frankfurt/M

In Sterbfritz trafen am 9. Februar 1944 etwa 60 Schülerinnen und Schüler der im Osten Frankfurts gelegenen, bombenzerstörten Uhlandschule ein. Eine kleine Gruppe von etwa 15 Schülern trat sofort nach Ankunft vom Bahnhof aus mit ihrem Lehrer Otto Lehmann den Fußmarsch nach Oberzell an. Die Mädchen, betreut von ihren Lehrerinnen Magdalena Weller und Mathilde Kellen, wurden im Wartesaal von ihren Sterbfritzer Pflegeeltern abgeholt. Die damals 7 Jahre alte Uhlandschülerin Hella Dippe erinnert sich, dass die Pflegeeltern ihre künftigen Pflegekinder auswählen konnten. Im Kreis Schlüchtern nahmen in jenen Tagen 12 andere Gemeinden „umquartierte“ Frankfurter Schülerinnen und Schüler in Pflegestellen auf: Altengronau, Breitenbach, Hohenzell, Jossa, Klosterhöfe, Kressenbach, Marjoß, Neuengronau, Reinhards, Romsthal, Uttrichshausen und Züntersbach.

 

Grundsätzlich war es den Familien freigestellt, ein Pflegekind aus Frankfurt aufzunehmen. Aber Bürgermeister, NSDAP-Ortsgruppenleiter und Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) werden in den meisten Fällen mit moralischen Appellen und gewiss auch mit Druck für hinreichend freiwillige Meldungen gesorgt haben. Die am 9. Februar 1944 - dem Tag der Ankunft der Frankfurter Kinder auf dem Bahnhof Sterbfritz - erstellte Liste mit den Namen und Adressen ihrer Pflegeeltern ist von Sterbfritz über die NSDAP-Kreisleitung Schlüchtern an die Behörden in Frankfurt Main übermittelt worden. Im Gleichlauf damit hat das Schulamt die Eltern - zumeist war nur die Mutter da – darüber informiert, bei wem ihre Kinder in unserem Dorf untergekommen waren. Diese Listen sind bis heute erhalten geblieben und werden im Archiv für Stadtgeschichte in Frankfurt aufbewahrt.

 

Welche Familien nahmen die Pflegekinder aus Frankfurt auf? Welche Gesichtspunkte im Einzelnen letztlich ausschlaggebend für die Aufnahme bzw. Zuweisung eines Kindes aus Frankfurt waren, geht aus den Akten nicht hervor. Wir halten es für wahrscheinlich, dass die Pflegefamilien in der Regel folgende Voraussetzungen erfüllten:

 

  • Eigene Kinder in vergleichbarem Alter.
  • Teil-Selbstversorger (Notwendigste Lebensmittel können in der eigenen Landwirtschaft selbst erzeugt werden).
  • Platz für ein weiteres Bett in der Stube.
  • Guter Leumund in der Dorfgemeinschaft.

 

Etliche Familien erfüllten diese Voraussetzungen nicht: Sei es dass sie keinen Nutzgarten, kein Äckerchen, keine Kuh, kein Schwein, keine Hühner hatten und all ihre Esswaren nur über Lebensmittelkarten beziehen mussten oder dass sie äußerst beengt zur Miete wohnten oder wegen sozialer, familiärer oder persönlicher Bedenken als Pflegefamilien von vornherein ausschieden.

 

Aufnahme Frankfurter Kinder am 9.2.1944 in Sterbfritz - Pflegeeltern: 1)

 

Blum, Marg.

 

Brückenauer. 35

Behringer, Gg.

 

Brückenauer. 35

Kraus, Joh.

 

Schlüchterner 38

Sperzel, Hartmann

 

Brückenauer. 42

Euler, Adam

 

Brückenauer 31

Scheel, Konrad

 

Mittelstr. 1

Röder, Friedr.

 

Schulstr. 2

Hartmann, Joh.

 

Weiperzer 26

König, Joh.

 

Brückenauer 14

Kirst, Heinrich

 

Schulstraße 6

Gärtner, Joh.

 

Bahnhofstr. 1

Zeller, Adam

 

Weiperzer 7

Schneider, Hch.

 

Hofstr. 6

Gärtner, Gertr.

 

Schlüchterner 33

Müller, Konrad

 

Weiperzer 21

Hohmann, Andr.

 

Wassergasse 5

Kohlhepp, Gg.

 

Schlüchterner 23

Merx, Heinrich

 

Schlüchterner 17

Röder, Friedr.

 

Breuningser 16

Schäfer, Konrad

 

Brückenauer 24

Eichholz, Gg.

 

Breuningser 8

Merx, Hartmann

 

Grüneberg 17

Kraus, Kath.

 

Kirchstr. 9

Schneider, Christ.

 

Brückenauer 12

Herche, Joh.

 

Schlüchterner 15

Heil, Andreas

 

Im Hof 16

Sperzel, Adam

 

Maidbrunn 3

Mack, Konrad

 

Feldst. 1

Bayer, Anna

 

Brückenauer 22

Frischkorn, Konrad ?

 

Schulstr. 10

Röll, Joh.

 

Schlüchterner 16

Kirst, Friedr.

 

Schlüchterner 13

Blum, Marg.

 

Bahnhofstr. 21

Melk, Adam

 

Maidbrunn 1

Heil, Franz

 

Breuningser 19

Krack, Wilh.

 

Sämeweg 6

Elgert, Heinrich

 

Schulstr. 14

Eichholz, Heinrich

 

Im Hof 9

Dorn, Wilhelm

 

Kirchstr. 7

Rohm, Hans

 

Bahnhofstr. 15

Merx, Hartmann

 

Grünebergweg 17

Herche, Kath.

 

Brückenauer 19

Hartmann, Joh.

 

Weiperzer 26

Hohmann, Maria

 

Brückenauer 1

Müller, Adolf

 

Mittelstr. 5

     

Wenn hier von den Familien in unserem Dorf die Rede ist, dann sind damit die im Krieg vorherrschenden Hausgemeinschaften gemeint: Der Vater war Soldat, vermisst oder gefallen, und die ganze Arbeit und die Sorge um die Rumpffamilie lasteten auf den Schultern der Mutter und der Großeltern, im günstigen Fall unterstützt von unverheirateten oder verwitweten Verwandten, die mit im Haushalt lebten. Etwa ein Dutzend Sterbfritzer Familien erscheint auch deshalb nicht auf der Liste der Pflegeeltern, weil sie schon in den Monaten zuvor ihre ausgebombten Verwandten aus Großstädten in ihren Haushalt aufgenommen und alle Möglichkeiten zu deren Unterbringung und Versorgung ausgeschöpft hatten.

 

Johannes Kraus, Schlüchterner Straße 38, "Fuchse", eine von 45 Sterbfritzer Familien mit einem Pflegekind aus dem zerbombten Frankfurt.

Von den 45 Frankfurter Mädchen wurden fünf schon in den ersten Tagen in Sterbfritz so heimwehkrank, dass sie von ihrer Mutter oder von Verwandten noch im Februar wieder zurückgeholt wurden. Bis Ende des Jahres war ein Viertel der Stadtkinder aus Trennungsschmerz und Sehnsucht nach ihrem Zuhause wieder nach Frankfurt zurückgekehrt. Trümmer und Tage und Nächte in Luftschutzbunkern im Kreise ihrer Verwandten, Freunde und Nachbarn waren ihnen erträglicher als die wildfremden Menschen im Dorf, die ungewohnte Lebensweise in einer kleinbäuerlichen Hausgemeinschaft und die unvertraute Mundart, die sie kaum verstanden, geschweige denn sprechen konnten. Die meisten der in Sterbfritz Verbliebenen wurden in den Monaten nach Kriegsende von ihren Angehörigen wieder nach Frankfurt geholt. Nur wenige blieben noch mehrere Jahre in ihren Sterbfritzer Pflegefamilien und gingen hier zur Schule. Zu ihnen gehörte Hella Dippe, die erst 1947 wieder nach Frankfurt zurückkehrte, nachdem ihre Mutter endlich eine Ein-Raum-Behelfswohnung hat beziehen können. Sie fühlte sich trotz ihres Heimwehs in ihrer Pflegefamilie geborgen, der Familie Johannes Kraus in der Schlüchterner Straße 38 (Fuchse). Noch heute, als alte Dame, spricht sie von der liebevollen Fürsorge, die sie von ihren Ersatzeltern und ihren „Geschwistern“, Karl, Lenchen und Anni erfahren hat und von den Freundschaften mit den Kindern in der Nachbarschaft und ihrer Schulklasse. Auch nach dem Tod ihrer Pflegeeltern blieb sie den “Fuchse“ freundschaftlich verbunden. Erst vor kurzem besuchte sie ihre Pflegeschwester Lenchen und feierte deren 90. Geburtstag mit ihr. Hella Dippe weiß dank ihres lebendigen Gedächtnisses vieles über die Kinderlandverschickung der Uhlandschülerinnen und –schüler nach Sterbfritz zu berichten; für den Geschichtsforscher ist sie ein lebendes Archiv. Die ausführliche Geschichte ist in dem Aufsatz über die „Kinderlandverschickung nach Sterbfritz“ dargestellt, veröffentlich im „Bergwinkel-Boten. Heimatkalender 2018“ (herausgegeben vom Kreisausschuss des Main-Kinzig-Kreises).

 

Drei andere Menschen, die es im Zuge der Kinderlandverschickung nach Sterbfritz verschlagen hatte, blieben auf Dauer in unserem Dorf und prägten seine Schullandschaft nachhaltig. Es waren die drei Frankfurter Lehrkräfte, die am 9. Februar 1944 ihre evakuierten Schülerinnen und Schüler nach Sterbfritz und nach Oberzell begleitet hatten: Otto Lehmann, Hauptlehrer und Schulleiter bis 1955, Lehrerin Mathilde Kellen bis 1956 und Lehrerin Magdalena Weller bis 1948 und danach Schulrätin des Kreises Schlüchtern.

 

 

1) Aufstellung in der originalen Schreibweise übertragen, ohne Änderung in Inhalt, Rechtschreibung und Interpunktion.

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Die Gefallenen der Gemeinde Sterbfritz im Zweiten Weltkrieg
1.8.8 Die Kinderlandverschickung.pdf
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