von Ernst Müller-Marschhausen
In Sterbfritz gab es bis heute, Volkstrauertag 2018, kein Verzeichnis der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus unserem Dorf. In vielen anderen Gemeinden bestehen solche Verzeichnisse schon lange, etwa in Form einer Steintafel in Oberzell vor der Kirche auf dem alten Krieger-Denkmal. Sterbfritz dagegen hat für seine gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs vor einigen Jahrzehnten lediglich das Ehrenmal vor der Kirche um eine Tafel erweitert mit den Worten:
„Unseren Gefallenen und Vermißten des Krieges 1939-1945 zum Gedenken“
Für uns Heutige weist diese Aufschrift auf eine unbekannte Gesamtheit der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sterbfritzer hin. Denn die mehr als sieben Jahrzehnte seit dem Kriegsende haben uns weit von denen entfernt, derer gedacht werden soll. Sie sind wegen der langen Zeit für die allermeisten Sterbfritzer, die heute leben, nicht mehr existent, weil wir keine Namen mehr mit denen verbinden können, für die man die Tafel seinerzeit erstellt hat.
Die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sterbfritzer aus der Anonymität herauszuholen – dieser Aufgabe fühlte sich die Arbeitsgruppe Heimatgeschichte unter der Leitung des Ortsvorstehers Willi Merx verpflichtet.
In dem Begriff „Gefallene“ sind all jene Sterbfritzer Soldaten eingeschlossen,
Aufgenommen in das Verzeichnissind alle Gefallenen,
Die Ergebnisse unserer Suche nach den Namen der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Sterbfritzer beruhen auf drei Dokumenten:
Keines der drei Dokumente enthält für sich allein die – bis heute ermittelbare – Gesamtzahl der 67 gefallenen Sterbfritzer (unter ihnen eine Frau), von seinerzeit 1250 Einwohnern unseres Dorfes. Erst wenn man die drei Register miteinander abgleicht, lässt sich die genannte Zahl ermitteln und eine vorläufige Vollständigkeit erreichen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. klärt noch immer, über sieben Jahrzehnte nach Kriegsende, unbekannte Soldatenschicksale auf. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass man im Laufe der Zeit auch noch die eine oder andere Ungewissheit über den Tod eines Sterbfritzer Soldaten aufheben und seinen Namen in die Gesamtliste unserer Gefallenen aufnehmen wird. Auch deshalb hat der Ortsbeirat Sterbfritz am 14. Juni 2019 im Mitteilungsblatt für die Gemeinde Sinntal die Einwohner aufgerufen, gefallene Angehörige, die im Verzeichnis noch nicht erfasst sind, der Arbeitsgruppe zur Prüfung und Klärung mitzuteilen.
Wir haben das Verzeichnis der gefallenen Soldaten aus unserem Dorf nach dem Sterbedatum angelegt.
In dem Verzeichnis haben wir die Namen der Gefallenen mit ihren letzten Adressen im Dorf ergänzt, soweit das noch ermittelbar war, entweder die Straße und die Hausnummer ihres Geburtshauses oder ihre letzte Sterbfritzer Wohnadresse. Da die Straßenbezeichnungen in unserem Dorf erst in den zwanziger Jahren eingeführt wurden, können wir in einigen Fällen zunächst nur die bis dahin allein gültige Hausnummer angeben. Aber weitere Recherchen werden jeweils genauere Standortangaben möglich machen.
Die Namen der bis heute ermittelten 67 gefallenen Sterbfritzer Soldaten wurden am Volkstrauertag, dem 18. November 2018, im Anschluss an den Trauergottesdienst in der evangelischen Kirche vom Ortsvorsteher Willi Merx gemeinsam mit Thomas Müller, Elsbeth Tehlar und Maria Gärtner zur Erinnerung und zum Gedenken verlesen und damit erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Gemeinde mitgeteilt.
Mit dieser Veröffentlichung wird das Verzeichnis nunmehr für alle zugänglich und einsehbar. Wir wollen damit Erinnerung gegen Vergessen setzen, erklärte der Ortsvorsteher, denn sie ist das Herzstück christlicher Überzeugung.
Gesamtliste der Gefallenen der Gemeinde Sterbfritz im Zweiten Weltkrieg
Sortierfolge Sterbedatum
(67 Männer und eine Frau)
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Mittelstraße heute Im Aspen; Schulstraße heute Am Rathaus; Schlüchterner Straße heute auch Alte Schlüchterner Straße; Hausnummern heute teilweise geändert
1) Ecke Brückenauer Str. / Am Tunnel, Haus abgerissen
Volkstrauertag
Verlesung der Namen der im Ersten und im Zweiten Weltkrieg
gefallenen Soldaten aus Sterbfritz
und der in den Jahren des Nationalsozialismus
ermordeten 32 jüdischen Sterbfritzer Bürger
Ansprache des Ortsvorstehers Willi Merx
am Volkstrauertag, dem 18. November 2018
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wir haben für unseren Ort ein Mahnmal, das für die Opfer des ersten Weltkrieges errichtet wurde.
Wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben unsere Eltern und Großeltern eine Tafel für die gefallenen Sterbfritzer Soldaten der Jahre 1939 bis 1945 daran angebracht.
Die Widmung auf dieser Tafel lautet schlicht und förmlich „Den Gefallenen und Vermissten des Zweiten Weltkriegs“.
Auf uns Heutige wirken diese nüchternen Worte seltsam distanziert, kühl und teilnahmslos, so als handle es sich um irgendein weit in der Vergangenheit liegendes namenloses geschichtliches Ereignis, wie so viele andere in den Geschichtsbüchern.
Nur diese Worte. - Kein Wort mehr.
Nichts erfahren wir.
Wie viele junge Sterbfritzer sind gefallen?
Es können 10 gewesen sein, oder 30 oder 100 oder mehr.
Und die Tafel sagt uns nicht, wer die jungen Sterbfritzer waren, die im Krieg geblieben sind. - Nicht einen einzigen Namen nennt sie.
Wenn unsere Eltern und Großeltern
in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg
auf dem Weg in die Kirche an dieser Tafel vorbeigingen
und die Widmung lasen ,
Aber heute gibt es nur noch ein paar wenige direkte familiäre Bezüge
zu den Gefallenen:
Aber alles in allem lässt uns Heutige
diese pauschale, namenlose Widmung menschlich unberührt.
Sie sagt uns zu wenig.
Sie sagt uns nicht, für welche Menschen sie steht.
Anders ist es in einigen Nachbargemeinden.
Dort sind sie auf Tafeln öffentlich sichtbar.
Jeder kann sie lesen. Vielen sind sie vertraut.
So werden sie vor dem Vergessen bewahrt.
Wir wollen das in unserem Dorf jetzt nachholen.
Wir, das ist eine kleine Arbeitsgruppe des Ortsbeirates
die die Chronik für Sterbfritz bearbeitet.
Wir haben in den standesamtlichen
und in den kirchlichen Urkundenbüchern nachgeforscht,
und in den Verzeichnissen des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge
und haben jetzt die Namen von 67 gefallenen Sterbfritzer Soldaten
ermittelt.
Aber es ist nicht auszuschließen, dass Sie als Mitbürger und
dass die Nachforschungen des Volksbundes
das eine oder andere noch immer unbekannte Soldatenschicksal vielleicht noch aufklären werden.
Wir haben diese Aufarbeitung jetzt gemacht
Wir fühlen uns verpflichtet, und
Aus den Standesamts- und Kirchenbücher
und den Verzeichnissen des Volksbundes
haben wir die Namen unserer Gefallenen ermittelt,
und dabei auch manches über ihr Sterben erfahren
und wo sie ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
67 junge Menschen aus unserem Dorf waren es,
unter ihnen eine Frau, eine Soldatin.
Einige erst 19 oder 20 Jahre alt.
Im Durchschnitt nicht älter als 25.
Die meisten von ihnen sind im Krieg gegen die Sowjetunion gefallen
und liegen beerdigt auf den großen Soldatenfriedhöfen in Russland.
Dort, ebenso wie auf Soldatenfriedhöfen in Frankreich oder Italien,
dort kann man unter den hundert Tausenden Namen
auch Namen unserer Sterbfritzer Gefallenen finden.
Die 67 gefallenen Sterbfritzer sollen jetzt auch in unserem Dorf ihre Namen wieder zurückerhalten.
Heute im Anschluß an diesen Gottesdienst wollen wir ihre Namen hier vor der Gemeinde verkünden,
zum ersten Mal,
73 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie gefallen sind.
Die offizielle Bezeichnung des Volkstrauertages in Hessen lautet:
Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und die Toten beider Weltkriege.
Vor einer Woche jährte sich das Ende des Ersten Weltkriegs
am 11.11.1918 zum hundertsten Mal.
Deshalb wollen wir heute
auch der 49 Sterbfritzer Männer namentlich gedenken,
die in diesem Krieg gefallen sind.
Fünf von diesen 49 waren Juden.
Ihre Namen stehen zusammen mit denen der Christen
auf den beiden Tafeln am Mahnmal.
Zwei von ihnen, Emanuel und Karl Schuster,
die im Alter von 23 bzw. 20 Jahren starben,
waren Söhne des Mazzenbäckers Juda Schuster.
Sie gingen für das Vaterland in den Krieg, das sie 20 Jahre danach ausrotten wollte.
Vor einer Woche, am 10.11.2018, war Alon Schuster,
ein Urenkel Juda Schusters,
mit seinen zwei Geschwistern und Familie in Sterbfritz zu Besuch.
Vor 80 Jahren, am 10.11.1938 musste Juda Schuster als 79 Jahre alter Mann
die sogenannte Kristallnacht erleiden,
in dem Dorf, in dem seine Familie seit Jahrhunderten ansässig war.
Wer mit älteren Sterbfritzerinnen und Sterbfritzern gesprochen hat,
der weiß, was sich an jenem Tag im Dorf abgespielt hat:
die Synagoge wurde im Inneren verwüstet,
Nationalsozialisten aus Sterbfritz und Nachbarorten hausten dort wie die Vandalen;
es gab wohl kaum ein jüdisches Haus,
in das die Nazis nicht eindrangen,
in den Wohnungen randalierten,
Einrichtungsgegenstände auf die Straße warfen,
Fenster einschlugen
und die Bewohner misshandelten.
Wir wollen heute auch der Sterbfritzer Juden gedenken,
die im Holocaust ermordet wurden.
Keiner von ihnen wurde in der Kristallnacht ermordet.
Aber der Pogrom vor 80 Jahren war der Anfang vom Ende.
Er stellte – im wahrsten Sinne des Wortes –
die Zertrümmerung des jüdischen Lebens in Sterbfritz dar.
Die jüdische Gemeinde in Sterbfritz zählte im Jahre 1933 93 Mitglieder.
Von diesen 93 wurden 32 Opfer des Holocaust.
Der Volkstrauertag ist nicht nur ein Tag,
an dem wir der gefallenen Soldaten unseres Dorfes gedenken wollen.
Er ist auch ein Tag,
an dem wir um diejenigen 32 Sterbfritzer trauern,
die in den Jahren des Nationalsozialismus ermordet wurden,
weil sie Juden waren
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
die 49 jungen Sterbfritzer Gefallenen des Ersten Weltkriegs,
die 67 jungen Sterbfritzer Gefallenen des Zweiten Weltkriegs
und die 31 ermordeten jüdischen Sterbfritzer
sind gegangen aus unserer Mitte,
doch nicht aus unserer Erinnerung,
nicht aus unseren Herzen.
Wenn wir nachher draußen vor der Kirche ihre Namen aufrufen,
und wenn wir ihrer heute gedenken,
kommen sie uns nahe,
und wir können ihre mahnende Stimme hören:
Nie wieder, nie wieder!