von Ernst Müller-Marschhausen
Im Archiv der Gemeindeverwaltung Sinntal schlummert in einer unscheinbaren braunen Heftmappe mit der Aufschrift "Bgm. Schneider" ein heimatgeschichtlicher Schatz. Es sind Dokumente, die von dem Kampf übriggeblieben sind, den 1958 knapp ein Drittel der Einwohner in einer "Interessengemeinschaft" für die Umbenennung von "Sterbfritz" in "Starkfried" führte. Bürgermeister Ernst Schneider (1896-1977) hat die für ihn bedeutsamen Schriftstücke des behördlichen Schriftverkehrs, mehrere Zeitungsausrisse und etliche Briefe von Außenstehenden wie vor allem auch von ehemaligen Sterbfritzern in seiner Handakte für die Nachwelt gerettet; glücklicherweise, sonst wären sie irgendwo im Aktengrab untergegangen oder im Reißwolf geendet. Es sind, wie gesagt, nur Reste des gesamten Aktenbestandes, der seinerzeit mehrere Leitzordner gefüllt haben mag, aber auch diese wenigen, doch inhaltlich gewichtigen Dokumente vermitteln uns einen guten Einblick in den Kampf um einen anderen, "schöneren" Namen für unser Dorf und in das unspektakuläre Ende der ganzen Kampagne. Zugegeben, es gibt schönere Ortsnamen in unserem Kreis. Sie strahlen Macht und Bedeutung aus wie Heldenbergen. Aber wir treffen auch auf noch skurrilere Ortsnamen, die recht unflätige Assoziationen in Gang setzen, wie Bösgesäß. Ob es dort auch Kampagnen für einen schöneren Ortsnamen gab?
Wer steckte eigentlich hinter dieser "Interessengemeinschaft" – heute sprechen wir von Bürgerinitiative –, die den pensionierten Postamtmann Georg Koch (1888-1963) in der Bahnhofstraße 5 (heute auf dem Grundstück Friseursalon zum André) zu ihrem Sprecher und Sekretär gekürt hatte? Er war kein Ur-Sterbfritzer, aber auch kein Fremder; sein Vater Konrad Koch war aus Schwarzenfels zugezogen und hatte die Postverwaltung in Sterbfritz übernommen. Die Liste mit den Namen der Unterzeichner ist nicht mehr greifbar. 587 sind es gewesen. Aus einer Reihe von Informationsschnipseln in Zeitungsberichten und Briefen können wir schließen, dass die Befürworter Neu-Sterbfritzer waren, Flüchtlinge, Vertriebene, Kriegsversprengte wie auch Fachleute und Manager, die sich im Zuge der rasant wachsenden Industrialisierung des Dorfes in Sterbfritz niedergelassen hatten. So waren zum Beispiel in der um 1950 angesiedelten Schuhfabrik ICAS unter ihren 550 Mitarbeitern viele Techniker und Kaufleute, die von weither kamen. Ihnen, all diesen "Neuen", missfiel der Name Sterbfritz, weil er sie an Sterben erinnerte und ihnen dauerndes Unbehagen bereitete.
Schon als Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Sudetenland, aus Schlesien und aus Ungarn in Massentransporten in der Endstation Sterbfritz ankamen und von hier ins Auffanglager Mottgers zum Registrieren und Entlausen gebracht wurden, entfuhr manchem von ihnen beim Anblick des Stationsschildes Sterbfritz ein tiefer Seufzer, wie dem alten ungarn-deutschen Johann Schütz, dem Urgroßvater des späteren Sinntaler Bürgermeisters Johann Heberling: „Man hat uns nach einem vierwöchigen, qualvollen Transport zum Sterben nach Deutschland gebracht; Sterbfritz bringt uns den Tod". In ihrer Heimat waren sie nach dem Kriegsende deklassiert, drangsaliert, viele misshandelt, verfolgt, und schließlich vertrieben worden, und jetzt, nachdem sie die Deportation in den Westen überlebt hatten und mit dem Leben und ein paar Habseligkeiten davongekommen waren – jetzt endete ihr Leidensweg ausgerechnet in Sterbfritz. Man kann es nachempfinden, dass sie ein dauerndes Unbehagen verspürten und alles daransetzten, in einer Gemeinde mit dem positiven Namen Starkfried zu leben und nicht auf Schritt und Tritt an eigenes Sterben gemahnt zu werden. 1200 Einwohner hatte unser Dorf seit Jahrzehnten; jetzt, nach Kriegsende, innerhalb von zwei, drei Jahren, kamen rund 800 Flüchtlinge und Vertriebene hinzu. Nicht nur sie hatten diese Aversion gegen "Sterbfritz". Gewichtige Argumente lieferten auch die Chefs der neuen Industriebetriebe. Sie klagten darüber, dass der Namen Sterbfritz die Kunden im Land unangenehm berühre und ein Verkaufskiller sei. Deshalb müsse man, diese Begründung zog zu allen Zeiten, im Interesse der Sicherung der Arbeitsplätze den Angst machenden Namen ablegen und dem Dorf einen werbewirksamen geben. Es gab sogar zwei finanzstarke Unterstützer, gewiss aus der Wirtschaft, die der Interessengemeinschaft jeweils 1500 DM für die Kampfkasse spendeten, eine immense Summe damals, als der VW Käfer Standard 3750 DM kostete.
Den offiziellen Startschuss gab der Brief des Georg Koch vom 5. Mai 1958 an die Landesregierung in Wiesbaden mit der Bitte um Namensänderung und zugleich um Mitteilung der Kosten für die Maßnahme. Der Hessische Innenminister schickte seine Antwort auf dem Dienstweg über den Regierungspräsidenten in Darmstadt und den Landrat des Kreises Schlüchtern an Bürgermeister Schneider mit dem Auftrag, doch der Bürgerinitiative mitzuteilen, dass über die Änderung des Dorfnamens die Gemeindevertretung zu beschließen habe.
Jetzt lag der Vorgang auf dem Tisch der 12 Sterbfritzer Gemeindevertreter. Es waren dies Johannes Berthold, Oskar Hannig, Kaspar Simon, August Glock, Heinrich Heinbuch, Adam Kleinhens, Alfred Schütrumpf, Adam Frischkorn, Adam Herche, Johannes Gunkel, Johannes Hohmann und Wilhelm Hartmann. Ein Blick genügt – bis auf drei waren es allesamt Alt-Sterbfritzer, deren Familiennamen in den Kirchenbüchern der Gemeinde seit Jahrhunderten ihren Stammplatz hatten. Deshalb überrascht es nicht, dass sie in ihrer Sitzung am 14. Oktober 1958 den Antrag der Interessengemeinschaft mit 10 zu 2 Stimmen in Bausch und Bogen ablehnten. Auch die von der Bundesbahn angedrohte horrende Summe von 6000 DM für die Änderung der Stationsschilder und der Fahrpläne im ganzen Land wird sie in ihrer Ablehnung bestärkt haben. Vermutlich hat mancher von ihnen das Ansinnen der Initiative als Hirngespinst bezeichnet, nicht öffentlich, aber hinter vorgehaltener Hand. Berücksichtigt man, dass jeder dritte Einwohner ein Neu-Sterbfritzer war, spiegelt sich das in der Zusammensetzung der Gemeindevertretung und in dem Abstimmungsergebnis ganz und gar nicht wider. Mit Fug und Recht wird man deshalb resümieren können, dass es die Alt-Sterbfritzer waren, die dem Antrag der Neu-Bürger auf einen neuen "positiven" Ortsnamen eine glatte Abfuhr erteilten. Der Bürgermeister zog danach einen Schlussstrich unter die Akte "Ortsnamen-Änderung" und hakte das Thema ab. Bis heute gab es keine Anläufe mehr, "Sterbfritz" abzuschaffen.
Viel packender als die recht nüchterne behördliche Abwicklung des Antrags sind die Briefe zu lesen, in denen neue Namen für unser altes Dorf vorgeschlagen werden, teils gescheite, teils alberne. Es scheint, als nehme das ganze Land Anteil an der Aktion und sei der Name unseres Dorfes in aller Munde, denn die Zuschriften kamen von weither.
Strebfritz. Gleich zwei Einsender – der eine aus Würzburg, die andere aus Brackwede bei Bielefeld – schlugen "Strebfritz" vor, weil er etwas Mutmachendes ausstrahle und Hoffnung auf Erfolg bekunde. Die Zuschrift aus Brackwede ist sogar in eine Strophe mit artigen Reimen gefasst: „Sterbfritz klingt gewiss nicht schön, / jedermann wird das einsehen./ Warum soll der Fritz auch sterben? / Sowas ist nur gut für Erben. / Lassen Sie den Fritz doch streben, / dann steht er im vollen Leben. / Nur ein „r“ ist zu verschieben, / alles andere ist geblieben. / Streben ist so gut wie stark, / und kostet nicht 6.000 Mark. / Wird der Name angenommen, / will ich mal nach Strebfritz kommen.“ Ja, und der ebenso wichtige zweite Grund war ein ökonomischer: Beide Vorschläge bestachen durch ihre Kostengünstigkeit. Denn es seien in dem ungeliebten Namen Sterbfritz nur zwei Buchstaben nach links zu rücken, und schon habe man den neuen optimistischen Ortsnamen kreiert, einen Namen, der sich in der Welt sehen lassen könne.
Sterbitz. Mit einer kleinen sprachwissenschaftlichen Expertise begründete ein Oberstudienrat aus Baden-Württemberg seinen Vorschlag. Der Bedeutungsträger in seinem Vorschlag sei die Silbe „bitz“, ein im Schwäbischen häufig auftretender Bestandteil von Orts- und Flurnamen, der im Althochdeutschen Baum- oder Grasgarten bedeute. Was die Kosten für die angestrebte Namensänderung betrifft, sei dieser Vorschlag nicht zu unterbieten, da nur zwei Buchstaben des alten Namens gestrichen werden müssen.
Steckfritz. Eine recht dümmliche Empfehlung erreichte den Bürgermeister aus Berlin. Man möge Sterbfritz doch in „Steckfritz, ein anderes Wort für Kobold“ umbenennen, meinte der Einsender.
Ehrwürdigkeit des alten Namens. In einem wortgeschichtlichen Kurzreferat schilderte ein Kölner Oberstudienrat die Entwicklung des Namens Sterbfritz von jener ersten urkundlichen Nennung des adligen Grundherrn und seines Besitzes als „starcfrides husir“. Durch „sprachlichen Verschleiss und Verbalhornung“ habe sich allmählich die heutige Fassung herausgebildet. Seinen Beitrag wollte er auch als einen Appell an die Sterbfritzer Lehrer verstanden wissen, „die Jugend auf den Ursprung und damit auch auf die Ehrwürdigkeit alter Namen hinzulenken.“
Presseecho. Selbst eine Wiener Zeitung widmete der Sterbfritzer Initiative einen Artikel mit der Kernbotschaft, dass „alle Sterbfritzer" einen neuen Namen für ihr ungeliebtes "Sterbfritz" wünschten. Es waren natürlich bei weitem nicht „alle". Aber wenn die Presse über ein relativ unspektakuläres Ereignis berichtet, ist sie versucht, die Nachricht ein bisschen aufzuplustern und das Geschehen zu dramatisieren. So tut es auch die Frankfurter Boulevardzeitung "Abendpost" mit ihrer fetten Überschrift „3000 wollen nicht in Sterbfritz wohnen". Aber nach dem Nein der Gemeindevertretung am 18. Oktober 1958 hat das Thema keinen Nachrichtenwert mehr für die Presse; für sie ist es gestorben.
Die Alteingesessenen ließ die Kampagne für einen neuen Ortsnamen ziemlich ungerührt. Zumindest finden sich in der Handakte des Bürgermeisters und in den Nachrichten und Leserbrief-Rubriken der lokalen Presse keine Hinweise darauf, dass es Unterschriftensammlungen, Proteste oder andere politische Aktionen gegeben hätte. Dass sich die Alt-Sterbfritzer offensichtlich nicht aktiv und nachhaltig an der Diskussion um die Namensänderung beteiligten, darf nicht als Ausdruck von Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Ortsnamen gedeutet werden. Es ist einfach so, dass die sprachwissenschaftlichen Exkurse der Interessengemeinschaft für sie einen mehr akademischen Charakter hatten und ihnen die Argumente der Wirtschaftsleute ziemlich weit hergeholt schienen. Und sie, die Neuen, mit ihren Forderungen nach einem anderen Ortsnamen würden ja ohnehin am „gesunden Menschenverstand" der Gemeindevertreter und des Gemeindevorstandes scheitern.
Für die Alt-Sterbfritzer gab es den Namen "Sterbfritz" allenfalls in seiner schriftlichen Form, auf den Ortsschildern der fünf Straßen, die ins Dorf hineinführten, auf dem Stationsschild am Bahnhof, in der Zeitung oder in amtlichen Schreiben. Wie gesagt, "Sterbfritz" las und schrieb man, aber keiner sprach diesen Namen aus. Er lag weit weg von ihrer Alltagswelt. Ihr Dorf nannten sie seit jeher "Starwetz", nicht anders. Man hätte sich lächerlich gemacht, im Gespräch mit Nachbarn sein Dorf mit seinem amtlichen, hochdeutschen Namen "Sterbfritz" zu benennen. Auch in den Nachbardörfern von Jossa bis Heubach und Vollmerz bis Züntersbach, wo eine ähnliche Mundart wie bei uns gesprochen wird, nannte man es nur "Starwetz". Und "Starwetz" hatte nun überhaupt keinen Beiklang, der an Sterben und Tod erinnern könnte.
Natürlich kannte man die Sage von der Entstehung des Namens: Ein Ritter sei mit seinem Pferd Fritz von Nord nach Süd gezogen. Auf dem Landrücken bei Schlüchtern war das Tier fast am Ende seiner Kräfte. Da brachte es der Ritter mit einem aufmunternden „Komm, Fritz" noch mal zum Weiterlaufen. Doch bald, dort wo die beiden Rinnsale Seeme und Kinz zusammenfließen, tat es seinen letzten Atemzug. Da nahm der Ritter Abschied von seinem treuen Begleiter mit den Worten „Sterb, Fritz". Der auf diese Weise entstandene Name des Dorfes gemahnte verständlicherweise keinen Sterbfritzer an eigenes Sterben – hier starb ja nur das Pferd Fritz.
Zwei frühere Sterbfritzer, die ihr Dorf schon vor Jahrzehnten verlassen hatten, haben sich in die Kampagne um die Namensänderung eingemischt. Ihre Briefe werden das Herz des Bürgermeisters gerührt haben. Einen hat Johann Böhm (1888-1986) geschrieben. Er ist in Sterbfritz aufgewachsen im Haus (heute) Brückenauerstraße 23 und lebte später bis zu seinem Tod in Frankfurt Griesheim. Der andere Briefschreiber war Max Dessauer (1893-1962). Er lebte bis zu seiner erzwungenen Emigration 1933 im Haus (heute) Brückenauer Straße 15, verbrachte die Jahre der deutschen Besatzung Frankreichs in der Illegalität unter dem Tarnnamen "Mortfric" (Sterbfritz), wurde 1958 wieder deutscher Staatsbürger und lebte bis zu seinem Tod in Frankfurt Main. Dort schrieb er, obwohl er viele Familienangehörige im Holocaust verloren hatte, sein Versöhnungsbuch "Aus unbeschwerter Zeit. Geschichten um die Juden in meinem Dorf". Beide, Böhm und Dessauer, deren Leben einen so unterschiedlichen Verlauf genommen hatte, machten ihrem Dorf Liebeserklärungen, wie sie bewegender nicht sein können. Beide bekundeten geradezu schwärmerisch ihre Verbundenheit mit ihrem Geburts- und Heimatdorf mit seinem „einzigartigen" Namen.
Johann Böhm gratuliert dem Bürgermeister und den Gemeindevertretern zu ihrem klaren Nein zur Namensänderung und überschüttet die Befürworter der Abschaffung des Namens Sterbfritz mit Spott und Verachtung, indem er schreibt: „Mein Glückwunsch und alle Hochachtung zu Eurem Beschluss, Sterbfritz nicht umzubenennen. Es wäre wohl auch ein Schildbürgerstreich. … Ich war und bin stolz darauf, in Sterbfritz geboren zu sein, denn der Ortsname erscheint nur einmal. Den unzufriedenen Neureichen und den Eingelackten, denen der Ortsname nicht gefällt, stellt doch anheim, sich im Ratzerot ein Starkfried zu bauen."
Auch Max Dessauers Brief an den „Sehr geehrten Herrn Bürgermeister und guten Freund" ist ein Zeugnis seiner innigen Verbundenheit mit seiner Sprach- und Geburtsheimat. „Was sind das für tolle Sachen, die ich da in der Presse lese, " schimpft er, „Ihr wollt den schönen Namen Sterbfritz verschandeln und verwässern und ein farbloses Starkfried daraus machen? Sterbfritz ist einmalig, und ich glaube nicht, dass der Bürgermeister von Todtmoos im Schwarzwald … jemals den geringsten Anstoß an der Benennung seines Ortes gefunden hat. Ich habe deswegen auch heute an den Landrat von Schlüchtern geschrieben." Es war in jenem Jahr schon daran gedacht, Max Dessauer wegen seiner humanitären Hilfe für Flüchtlinge im besetzten Frankreich und in den Nachkriegsjahren zum Ehrenbürger von Sterbfritz zu ernennen. Darauf bezieht er sich in den folgenden Sätzen: „Solltet Ihr ollen Sterbfritzer wirklich Euren schönen und pikanten Namen verändern, dann bitte ich darum, mich anlässlich meines Geburtstages am 23.10. (ich werde 65 Jahre alt) zum Ehrenbürger zu ernennen, und ich werde mich dann in Zukunft Max Dessauer-Sterbfritz nennen…. Also, lieber Freund, lasst den Namen Sterbfritz und seid stolz darauf, es besteht kein Grund, deswegen Minderwertigkeitskomplexe zu haben…"
Ein anderer ehemaliger Sterbfritzer, der sich zwar damals nicht an dem Streit um den Ortsnamen beteiligt hatte, aber gleichwohl später mit seinem Buch "Von Sterbfritz nach Las Vegas" ein ergreifendes Bekenntnis zu Sterbfritz abgelegt hat, ist Heinz (Henry) Schuster (1926-2014), geboren und aufgewachsen im Haus (heute) Alte Schlüchterner Straße 12. Er schildert darin wehmütig seine Kindheit in unserem Dorf, die Jahre des gut nachbarlichen Zusammenlebens christlicher und jüdischer Bürger, das mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zu Ende ging, als aus Nachbarn Juden wurden. Seine Mutter Rosa und seine Schwester Margot wurden in einem Konzentrationslager ermordet, er selbst entkam dem Holocaust mit einem der letzten Transporte jüdischer Kinder und Jugendlicher in die USA. Trotz der zerrissenen Erinnerungen entfaltet er in der ersten Hälfte seines Buches ein liebvolles Szenario des Alltags seiner Familie, die vom Ertrag eines kleinen Ladens und eines Äckerchens lebte, in der er behütet und sorglos aufwuchs. Anschaulich erzählt er von den gemeinsamen Spielen mit den Jungen und Mädchen der Nachbarschaft auf den Wegen und Höfen im "Önnerduef", aber auch, wie er unter der Behandlung eines Lehrers litt, eines sadistischen Judenhassers. Was er in seinem Buch erzählt, reicht über seine persönliche Lebensgeschichte hinaus und ist, in der ersten Hälfte, auch ein authentisches Zeugnis aus einer unwiederbringlich vergangenen Welt unseres Dorfes, ein kleines Heimatbuch. Als alter Herr hat er mehrmals sein Heimatdorf besucht und darauf hingewirkt, dass drei Mahn- und Gedenktafeln an die jüdische Gemeinde und die 31 ermordeten jüdischen Sterbfritzer erinnern, eine vor der evangelischen Kirche in unserem Dorf, zwei auf dem jüdischen Friedhof in Altengronau, der jahrhundertealten Begräbnisstätte der Juden in unserer Region. Als er sich wegen seiner Altersbeschwerden die lange Reise von seiner neuen Heimat Las Vegas nach Sterbfritz nicht mehr zumuten konnte, hat er immer wieder mal den Verfasser angerufen und sich wie ein Schneekönig gefreut, wenn ihm wieder einmal ein paar Worte in unverfälschter breiter Sterbfritzer Mundart einfielen, wie "Sücherje" und "Mattekuche". Und er bekannte bis zum Ende seines Lebens: „Ich sein on bleib en Starwetzer".
Inhalt der Handakte "Bgm. Schneider"