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Sterbfritzer Dorfchronik
Sterbfritzer Dorfchronik

Sterbfritzer Auswanderer nach Russland 1766

Ihre Mundart und ihr Brauchtum nahmen sie mit in die neue Heimat

Von Ernst Müller-Marschhausen

 

 

Katharina die Große. Ihrem Ruf folgten auch drei Sterbfritzer.

Ein Virus grassierte in Deutschland, vor gut 250 Jahren. Er kam aus Sankt Petersburg, ausgelöst von der Zarin Katharina der Großen (1729-1796). Sie wollte den Süden ihres riesigen Landes besiedeln und Gesellschaft und Wirtschaft europäisieren. In ganz Westeuropa ließ sie ihre Werbeplakate mit einer verlockenden Botschaft an die Scheunentore heften: Sie lud vor allem verheiratete Bauern und Handwerker mit ihren Familien ein, nach Russland zu kommen, damit sie die unterentwickelte Landwirtschaft auf westliches Niveau bringen und ihren rückständigen Muschiks Beispiel und „Lehrmeister“ sind. Dort, so versprach sie ihnen, bekämen sie 30 Hektar fruchtbaren Boden zum unantastbaren Besitz auf ewige Zeiten, ein Darlehen in Höhe von 200 Rubeln, Steuerfreiheit bis zu 30 Jahren, freie Religionsausübung und Befreiung vom Militärdienst, und schließlich bleibe Deutsch ihre Sprache in ihrer eigenen Verwaltung, in Kirche und Schule. Da begaben sich 30 000 Menschen aus dem Westen auf den Weg nach Russland, Tausende kamen aus hessischen Gemeinden, über hundert aus unserer Heimat, dem Land der armen Hansen, drei von ihnen waren Sterbfritzer.

 

In den Archivunterlagen, die in Deutschland über die Auswanderer Auskunft geben, sind ihre Namen, ihre Herkunftsgemeinde, ihr Beruf, ihr Familienstand und vor allem auch ihre Religion dokumentiert:

 

Bretthauer, Kilian

Koch, Johannes (Klingemühle) und

Steinmacher, Heinrich Melchior

 

  • Bretthauer hießen im 18. und 19. Jahrhundert mehrere Sterbfritzer Familien. Seit über 100 Jahren taucht der Name nicht mehr in den einschlägigen Kirchenbüchern auf.
  • Koch, mit dem ergänzenden Zusatz „Klingemühle“, ist ein Name, der im 18. und 19. Jahrhundert in Sterbfritz nicht vorkommt. Er wird ein Knecht des Klinge-Müllers gewesen sein, vielleicht ein Zugereister oder ein hier hängengebliebener Soldat des Siebenjähriges Krieges, jedenfalls nicht der Besitzer der Mühle, denn der war damals bis heute die Familie Strott.
  • Steinmacher ist der Name einer alteingesessenen Sterbfritzer Familie. Er ist noch immer einer der häufig auftretenden Familiennamen in unserem Dorf.

 

Viel mehr an verlässlichen Daten haben wir nicht über die drei. Aber wir können aufgrund vieler Informationen über Biographien und Lebensumstände anderer Auswanderer aus unserer Region von zwei Gegebenheiten ausgehen:

 

Unsere drei Auswanderer gehörten nicht zu den paar wenigen wohlhabenden Bauern im Dorf, den Gäulsbauern, sondern waren kleine Leute, Kühbauern oder Geißbauern oder, wie Bretthauer Handwerker, oder, wie Johannes Koch Knechte, aber fleißig und an hartes Arbeiten in Haus und Hof, auf Wiese und Acker, gewöhnt, wie es die Zarin erwartet, aber ohne große Hoffnung, dass sich ihre Lage als Untertanen mal ändern werde. Sie waren keine Abenteurer, Glücksritter und Nichtsnutze – die hätten die Beamten der Zarin am Sammelplatz Büdingen als ungeeignet und unerwünscht zurückgewiesen.

 

Die drei Auswanderer aus Sterbfritz waren verheiratet. Die Zarin wollte nur Verheiratete, in ihr Land holen, mit einer möglichst großen Kinderschar. Alleinstehende, unverheiratete Männer und Frauen wurden deshalb in Büdingen „auf Verlangen des Russisch Kayserl. Commissariats copulirt.“ Der Büdinger Pfarrer traute in wenigen Monaten des Jahres 1766 nicht weniger als 750 Alleinstehende, Unverheiratete und Verwitwete, damit sie sich dem Treck in Richtung Lübeck, Petersburg und von dort an die untere Wolga anschließen durften. Es waren keine moralischen Skrupel der Zarin, sondern sie hatte handfeste Interessen an verheirateten Siedlern: Sie sollten viele Kinder in die Welt setzen und in ein paar Generationen den ganzen Süden ihres Landes besiedeln. Dass der Handwerker Kilian Bretthauer mit seiner Frau Barbara verheiratet war, belegen die einschlägigen Akten. Auch Steinmacher und Koch müssen sich als Verheiratete und ggf. mit ihren Kindern den russischen Beamten vorgestellt haben, denn ihre Namen sind in dem Büdinger Copulationsregister nicht aufgeführt.

 

Von Sterbfritz bis an die untere Wolga: 4350 Kilometer

 

Die Auswanderer aus dem Westen fanden nach der ein Jahr dauernden Reise an die untere Wolga, in die Region Saratow und Zarizin, das spätere Stalingrad und heutige Wolgograd, eine neue Heimat, wo sie zunächst über 100 Dörfer, streng getrennt nach protestantisch und katholisch, gründeten. Später kamen 3500 Tochterkolonien hinzu, im Nordkaukasus, in Sibirien, in Kasachstan und auf der Krim. Ihr Start in der neuen Heimat war schwer. Aber da die Zarin alles in allem Wort gehalten und ihre Zusagen eingelöst hatte, dauerte es nur wenige Jahrzehnte, bis sich die Anwesen der Deutschen an der Wolga in blühende Landschaften verwandelt hatten.

 

Ein Sprichwort kursierte gegen Ende des Jahrhunderts in den Dörfern an der Wolga. Es bringt die Lebensgeschichte der ersten Siedlergeneration auf den Punkt:

 

Die ersten Jahre brachten den Tod,

die nächsten Jahre noch immer Not,

erst die letzten Jahre brachten uns Brot.

 

Die Siedler an der Wolga wollten für sich bleiben. Sie schotteten sich ab gegenüber dem russischen Umfeld und fühlten sich recht behaglich in ihrem geschlossenen deutschen Milieu. Sie pflegten ihre aus der Heimat mitgebrachten Traditionen und konservierten die Mundart, die sie zuhause gesprochen hatten. Heute würde man von einer Parallelgesellschaft sprechen. Aber das war von der großen Katharina durchaus so gewollt.

 

In einem der protestantischen Dörfer an der Wolga werden sich auch die Sterbfritzer niedergelassen und ihr Glück gemacht haben. In den russischen Akten verlieren sich ihre Spuren. Doch wir können annehmen, dass sie wie all die anderen ihre Erinnerungsstücke, die sie aus ihrem Heimatdorf mitgenommen hatten, von einer Generation an die andere weitergegeben haben. Gewiss die Bibel und das Gesangbuch, ihr Brauchtum, vertraute Lieder, Legenden und Sprichworte und viele Gewohnheiten des Alltagslebens. Nachweislich haben sie in der neuen Heimat ihre gewohnte Mundart gesprochen. Da ein großer Teil der damals ausgewanderten 30 000 aus unserer hessischen Heimat kamen - speziell auch aus der südlichen Rhön, dem Vogelsberg, dem Bergwinkel und aus dem Kinzigtal bis hinunter nach Hanau –, haben sie in ihrer Sprache viele Wörter konserviert, die aus unserem osthessischen Dialekt stammen und die in anderen Regionen Deutschlands unbekannt, zumindest ungebräuchlich sind. Deshalb verwenden Sprachwissenschaftler hier sogar den Begriff „Russlandhessisch“. Manche Wörter sind uns ganz vertraut und geläufig. Vielen von uns ist aufgefallen, dass manche Deutsche aus Russland, also Nachkommen der Wolgadeutschen, die seit den 90er Jahren nach Deutschland, ins Land ihrer Vorväter wieder zurückgekommen sind, ganz spezielle Wörter u. a. aus den Bereichen Verwandtschaftsbeziehungen, Hauswirtschaft und Landwirtschaft verwenden, die uns nicht nur bekannt sind, sondern die zu dem aktiven mundartlichen Wortbestand gehören, den wir im ganzen Bergwinkel, und ausnahmslos auch in unserem Dorf sprechen. In vielen Gesprächen mit rußlanddeutschen Mitbürgern habe ich solche frappierenden Gemeinsamkeiten festgestellt. Beispiele dafür sind:

 

Verwandtschaftsbeziehungen: "Babbe" für Vater, "Mamme" für Mutter, "Votter" für Großvater, "Pätter" für Pate, "Döt" für Gote (Patin).

Hauswirtschaft: "Kraut" für Kohl, "Döppe" für Topf, "Kroppe" für Kochtopf.

Landwirtschaft: "Watz" für Eber, "Mock" für Mutterschwein, "Wutz" (Kindersprache) für Schwein, "Gaaß" für Ziege, "Gaul" für Pferd.

 

Auch einige Verben in der Sprache mancher Russlanddeutschen geben ihre osthessische Herkunft zu erkennen. In unserem Bergwinkel-Dialekt werden sie bis heute verwendet. Beispiele dafür sind: Der Hund "gauzt" für bellt; sie "bischbelt" für flüstert, das Kind "greint" für weint, er "schnaut" für atmet.

 

Es gibt noch eine andere Eigentümlichkeit, und zwar in der Lautung mancher Wörter, die auf unsere Sprachlandschaft zwischen Vogelsberg und Spessart hinweist und ein weiteres deutliches Indiz für Übereinstimmungen des Russlandhessischen mit unserer Bergwinkel-Mundart ist. Wenn die Konsonanten t und d zwischen Vokalen stehen, werden sie zu r. Dieser Wechsel tritt in anderen hessischen Dialekten nicht auf. Beispiele dafür sind: "Schliere" statt Schlitten, "geschniere" statt geschnitten, "geliere" statt gelitten, "wiere" statt wieder, "sarich" für sagt' ich, "Bruer" für Bruder, "Kere" für Kette.

 

Ende der achtziger Jahre hat sich für die Deutschstämmigen in Russland das Tor zum Westen geöffnet. Ein lawinenartiger Exodus setzte ein. 2,3 Millionen verließen als Aussiedler und Spätaussiedler die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten und sind Binnendeutsche geworden, unsere Nachbarn. Über 1000 haben sich in den Städten und Dörfern des Altkreises Schlüchtern niedergelassen, ein paar Dutzend in unserem Dorf, unter ihnen vielleicht Nachkommen in der achten Generation jener drei Sterbfritzer Familien, die vor gut 250 Jahren dem Ruf der Zarin in eine bessere Zukunft gefolgt sind. Ausgeschlossen ist es nicht.

 

 

Eine ausführliche Darstellung über die „Russland-Auswanderer aus dem Bergwinkel um 1766 und ihre Spurensuche nach ihrer Rückkehr im 20. Jahrhundert“ ist mit zahlreichen Quellen- und Literaturverweisen erschienen in „Bergwinkel-Bote. Heimatkalender 2016“, hrsg. vom Kreisausschuss des Main-Kinzig-Kreises Schlüchtern. S. 34-48.

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