von Jochen Melk
Der Zweite Weltkrieg hatte die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen – und darunter nicht zuletzt auch Displaced Persons, Flüchtlinge, Vertriebene, Umgesiedelte, Kriegsgefangene und Ausgebombte – zerstört; Auswanderung erschien vielen als der Weg aus der Trümmerlandschaft Europas.
In den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1946 und 1961 gingen insgesamt 780.000 Deutsche nach Übersee. 385.000 hatten die Vereinigten Staaten als Ziel, 235.000 Kanada und 80.000 Australien. Weitere 80.000 Deutsche zog es in ›sonstige‹ Länder. Das war die stärkste Auswanderungsbewegung aus Deutschland im 20. Jahrhundert.
Unmittelbar nach Kriegsende blieben dabei die Auswanderungsmöglichkeiten für Deutsche aufgrund von Regelungen der alliierten Besatzer zunächst noch sehr beschränkt und galten nur für Ehepartner und Kinder ausländischer Staatsangehöriger bzw. anerkannte Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes. Außerdem gab es weltweit kaum ein Land, das deutsche Einwanderer zugelassen hätte. Deshalb blieb die Zahl der deutschen Überseeauswanderer zwischen 1945 und 1948 auch auf rund 32.000 beschränkt. Erst mit der Gründung der Bundesrepublik wurde die Auswanderung wieder freigegeben, und auch die wichtigsten Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien zeigten sich bereit, die Einreise von Deutschen zu akzeptieren. Das war die Voraussetzung für den explosionsartigen Anstieg der Auswandererzahlen Anfang der 1950er Jahre. 1)
Hans Sperzel, 1930 im Sterbfritzer Westend geboren, war einer dieser Auswanderer. Nach dem Krieg machte er auf Anraten seines Großvaters eine Lehre als Landwirt bei Bauer Beck in der Krämerstraße in Schlüchtern und besuchte im Winter die Landwirtschaftsschule. Seine Hoffnungen auf Übernahme des großväterlichen Betriebs zerschlugen sich und so sah er in Sterbfritz für sich keine Zukunft und ging, um seinen eigenen Weg zu finden. Auf einem Milchviehbetrieb in Ossenheim bei Friedberg traf er Inge Wolk, sie verliebten sich und heirateten.
Inge war Ende 1944 mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern aus Ostpreußen vor der russischen Armee geflohen und hatten Berlin erreicht, das inzwischen im Chaos lag. Durch das Rote Kreuz wurden sie auf wundersame Weise wieder mit ihrem Vater vereint, bevor sie in den Westen zogen.
Inges Bruder wanderte nach Australien aus und Hans Sperzel folgte 1955 mit seiner Familie. Hans erinnert sich: "Ich hatte über das Leben auf dem Land in Australien gelesen und das hat mich angesprochen. Wir haben die Entscheidung zu gehen hauptsächlich getroffen, um unsere Möglichkeiten zu verbessern. Zu der Zeit waren wir verheiratet, mit zwei kleinen Kindern und lebten mit Inges Eltern und ihren zwei Schwestern zusammen. Ich arbeitete damals im Schichtbetrieb beim VDM-Werk in Frankfurt 2). Australien schien eine gute Gelegenheit zu sein, ein besseres Leben für uns zu schaffen und meinen Traum zu verwirklichen, irgendwann ein eigenes Anwesen zu besitzen, etwas was mir zu dieser Zeit in Deutschland nicht möglich erschien.“
Am 15. Mai 1955 verließ die Familie Ossenheim und bestieg in Bremerhafen die M.S. Skaubryn. Das Gepäck war auf drei große Holzkisten beschränkt und beinhaltete neben Kleidung auch Bettwäsche,
Geschirr, Kochutensilien, Kinderfahrräder und andere Haushaltswaren. Auf dem Seeweg ging es über Suezkanal und Indischer Ozean Richtung „Down Under“. Die ersten Schritte auf australischem Boden waren
in Freemantle, West Australien. Sperzels verließen das Schiff entgültig am 3. Juli 1955 in Melbourne, Victoria.
Ihre erste Anlaufstelle war das Bonegilla-Flüchtlingslager in der Nähe von Albury. Die Realität sah anfangs nicht ganz so rosig aus wie erhofft. Sie sprachen kein Englisch und die Lebensbedingungen
waren so ganz anders als in Deutschland: das anglo-australische Essen, das raue Klima, die herablassende Einstellung zu Migranten und sogar die einheimischen Tiere.
Es wurde dann etwas leichter als Hans Sperzel für einen harten, aber freundlichen Viehzüchter aus dem Westen zu arbeiten begann, der in Deutschland Kriegsgefangener war und etwas Deutsch sprach. Er brachte sie auf einem 820 ha großen Schafgrundstück in der Nähe von Cowra unter, eine abgelegene Hütte ohne Wasser, Telefon und Strom. Hans fuhr jeden Tag neun Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit, Inge war allein mit den Kindern. Die Hitze und die Einsamkeit waren die größten Herausforderungen. Ohne Auto mussten sie sich auf einen Transport in die Stadt verlassen, um mit Nachschub versorgt zu werden. Sie verständigten sich mit Zeichensprache und gebrochenem Englisch.
Schließlich zogen sie auf andere Farmen, Hans arbeitete mit Schafen und Rindern, Inge kümmerte sich um ihre drei Kinder. Durch deren Schulbesuch lernten auch sie besser Englisch und etwas über die australische Art, die Dinge anzugehen. Als sie sich ein Auto leisten konnten, erkundeten sie die Gegend weiter nach Osten und entdeckten schließlich die Highlands. Hans Sperzel las in der Zeitung „The Land“, dass es in Sutton Forest Arbeit gab, und als sie ankamen, gefiel ihnen die Gegend wirklich gut, da sie sie an ihre Heimat erinnerte.
Fünf Jahre lang lebten sie auf der Farm „Eling Grange“ bei Sutton Forest, wo Hans arbeitete und von dort 1964 in Penrose einen vernachlässigten landwirtschaftlichen Betrieb entdeckte. Dies war die Verwirklichung ihrer Hoffnungen: Unabhängigkeit und ein eigenes Heim.
Es folgten fast 50 Jahre harter Arbeit, ihren Besitz „Santa Rosa“ aufbauend, ihre Kinder erziehend und in der örtlichen Gemeinschaft helfend. Hans begann im lokalen Wald zu arbeiten und wurde ein wichtiger Lieferant für das örtliche Sägewerk. 1996 konnte er in Rente gehen und bewirtschaftet seitdem sein eigenes Land.
Hans und Inge Sperzel sind beliebte und geachtete Einwohner ihrer Gemeinde. „Unsere drei Kinder sind verheiratet und führen ein erfolgreiches Leben. Wir haben 10 Enkelkinder, 18 Urenkel und 1 Ur-Urenkel.", erzählt Hans, „Wir glauben, dass wir das erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben und das wir unser Leben in Australien genossen haben.“
Anmerkungen, Quellen und Literaturhinweise:
Quellen:
erstellt Mai 2020