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Sterbfritzer Dorfchronik
Sterbfritzer Dorfchronik

Das Heiratsverhalten der Sterbfritzer

Was uns die Kirchenbücher berichten (1683-1874) – Und ein Ausblick

von Ernst Müller-Marschhausen

 

(Zuerst erschienen in "Bergwinkel-Bote. Heimatkalender 2017", S. 76-86.

Überarbeitete Fassung)

 

Die drei "T" in den Kirchenbüchern

Seit 1874 rechtsverbindliche Eheschließung nur noch im Standesamt

Wen die jungen Sterbfritzer Männer und Frauen heirateten, ob sie lieber unter sich blieben in ihrem Dorf oder sich ihre Bräute und Heiratskandidaten von draußen, aus anderen Dörfern und Städten holten – über all das informieren uns die Kirchenbücher unseres Dorfes. In ihnen haben die Pfarrer Jahrhunderte lang die "drei T" sorgfältig dokumentiert: Taufen, Trauungen und Tod. Das älteste noch vorhandene Sterbfritzer Kirchenbuch beginnt mit dem Jahr 1683. (1) Bis zum Jahr 1874, als Preußen per Gesetz die Führung der Personenstandsregister den Kommunen übertrug, waren die Kirchenbücher die einzigen offiziellen Akten über Geburten, Eheschließungen und Todesfälle; sie bilden deshalb die Hauptquelle, die uns über die Entwicklung der Dorfgemeinschaft berichtet. In Sterbfritz beginnt das kommunale, von da an vom Bürgermeister geführte Heirats-Register, am 8. Dezember 1874. Zwar protokollieren die Pfarrer die "drei T" nach wie vor bis heute in den Kirchenbüchern, aber diese haben ihren früheren amtlichen Charakter verloren und sind jetzt nur noch von inner-kirchlicher Bedeutung. (2) 

 

Wenn wir hier so pauschal von "den Sterbfritzern" sprechen, müssen wir einen Augenblick innehalten und etwas genauer schildern, wie sich die Dorfbevölkerung damals formierte: Sterbfritz war bis vor hundert Jahren ein rein evangelisches Dorf; erst nach dem Ersten Weltkrieg ließen sich zwei katholische Familien dauerhaft bei uns nieder. Ja, es war rein evangelisch, unser Dorf, doch diese Feststellung verlangt eine Ergänzung: Es existierte eine starke jüdische Gemeinde in Sterbfritz, schon seit dem 16. Jahrhundert, deren Anteil an der Gesamteinwohnerschaft sich immer etwas um die zehn Prozent herum belief. Das Heiratsverhalten der Schuster, Hecht, Dessauer, Goldschmidt und ihrer mosaischen Glaubensbrüder war so ganz anders als das der christlichen Nachbarn. Deshalb wollen wir es später in einem gesonderten Kapitel beleuchten.

 

"Copulati" (Trauungen) von 1683-1874

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Rubrik "Copulati" (3) in unseren Kirchenbüchern (1683-1874), auf die Spalte, in der die Pfarrer die Namen der Brautleute und ihre Herkunftgemein-den, die Namen ihrer Eltern, hin und wieder ihren Stand sowie gelegentlich noch ergänzende Hinweise auf besondere Umstände der Eheschließung registriert haben. So begegnet uns bei jeder fünften Trauung der Eintrag "nach abgelegter Buße", gelegentlich auch "censura ecclesiastca coram presbyterio", oder "praevia censura ecclesiastica ob anticipatum concubitum", womit für alle Zeiten aktenkundig gemacht wird, dass die Braut vor der Trauung wegen "fleischlicher Vermischung" schwanger wurde. Die hohe Zahl solcher "Muss"-Heiraten ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die Heiratserlaubnis an ein gesichertes Einkommen und Grundbesitz gebunden war. War ein Kind unterwegs, wurde den Eltern, auch wenn sie kein gesichertes Einkommen nachweisen konnten, dann doch die Eheschließung gestattet, um dem Kind den Makel der "Unehelichkeit" und zeitlebens persönliche und berufliche Nachteile zu ersparen und ihn im geschützten Raum einer mit kirchlichem Segen gegründeten Familie aufwachsen zu lassen. Ob Ehen in unserem Dorf mehr aus Liebe geschlossen wurden oder aus Vernunft oder Standesgründen – darüber kann man allenfalls spekulieren. Aber, standesgemäß zu heiraten, in seinem Stand zu bleiben, nicht "nach unten" zu heiraten – das war wie ein ehernes Gesetz. "Ganze Bauern", das waren wohlhabende Pferde-Bauern, heirateten in Familien ihresgleichen, "Halb-Bauern", kleine Küh-Bauern, blieben unter sich, und auch die Armen im Dorf, die "Hüttner", "Häusler" oder Ziegen-Bauern. Es kam schon mal vor, dass es einer jungen Frau oder einem jungen Mann gelang, die Standesgrenze durch eine Heirat "nach oben" zu durchbrechen. Aber solche Ausreißer waren äußerst selten. Durchwegs blieb man in dem gesellschaftlichen Umfeld, in das man hineingeboren war, und gab sich zufrieden – so scheint es - mit seinem persönlichen Schicksal und mit dem, was man hatte, denn auch die Verteilung der Güter war gottgewollt. Dass man zu seinem Stand gehörte, das war eine Gewissheit, die keine Begründung braucht. Ausdruck fand dieser schicksalsergebene Glaube in einem damals populären Sinnspruch, der in vielen Stuben unseres Dorfes hing und die Menschen tröstete, aber zugleich auch mahnte: Genieße, was Dir Gott beschieden, / begehre nicht, was Du nicht hast. / Ein jeder Stand hat seinen Frieden / ein jeder Stand hat seine Last. (4) 

 

Der überschaubare Sterbfritzer Heiratskreis

Evangelische Kirche Sterbfritz

1410 Paare wurden in den knapp zwei Jahrhunderten in der Sterbfritzer Kirche getraut.

 

52 Prozent der Ehen schlossen die eingesessenen Sterbfritzer unter sich. Strotts heirateten Merxe, Eulers die Hartmanns, Blums die Röders, Müllers die Simons, Böhms die Schneiders. So ging es Jahrhunderte lang in vertrauten Mustern fort, stets ein bisschen variiert. Doch unser Dorf zählte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur zwischen 900 und1100 Einwohnern, zu klein, als dass es ohne Blutzufuhr von außen hätte auskommen können, um das Risiko genetisch bedingter Krankheiten zu vermeiden.

 

Wie aber sah der Heiratsmarkt in jener Zeit aus? Wie weit wagten sich die Sterbfritzer Heiratswilligen ins Land hinaus, wenn sie auf Brautschau gingen? Welches waren ihre bevorzugten Reviere, wo sich frische Genressourcen aufspürten ließen? Und wo fanden die jungen Leute schließlich ihre Partnerin oder ihren Partner fürs Leben?

 

Bei 43 Prozent der Trauungen kamen Braut oder Bräutigam von draußen. Die Zahl der Einheiraten und der Ausheiraten dürfte sich seit jeher die Waage gehalten haben. Aber was heißt schon "von draußen"? Dieses Draußen war die kleinräumige Nahwelt, das allernächste Umfeld: Es waren die Dörfer in der Nähe, nicht weiter entfernt als drei oder vier Wegstunden. Wir sprechen hier vom "Heiratskreis".

 

Das frisches Blut von draußen erhielt Sterbfritz Jahrhunderte lang von nur knapp drei Dutzend Gemeinden in seinem Heiratskreis. Über ihn kamen die meisten Menschen ihr Leben lang nicht hinaus. Die Wahrscheinlichkeit, außerhalb des eigenen Dorfes eine Braut oder einen Bräutigam zu finden, nahm mit der Entfernung ab. Je weiter der Weg, umso weniger Begegnungen und Heiraten. Dieser uralte Sterbfritzer Heiratskreis, aus dem die Bräute und Bräutigame kamen, umfasste im Wesentlichen nur folgende Gemeinden: (5)

 

Der Sterbfritzer Heiratskreis
   

1. Weichersbach

12. Heubach

23. Schlüchtern

2. Breunings

13. Gundhelm

24. Breitenbach

3. Mottgers

14. Altengronau

25. Marjoß

4. Ramholz

15. Niederzell

26. Kressenbach

5. Neuengronau

16. Hutten

27. Bellings

6. Oberzell

17. Oberkalbach

28. Holzmühl

7. Schwarzenfels

18. Uttrichshausen

29. Steinau

8. Sannerz

19. Hohenzell

30. Kerbersdorf

9. Elm

20. Wallroth

31. Seidenroth

10. Züntersbach

21. Ahlersbach

 

11. Vollmerz

22. Hintersteinau

 

 

Auffälligkeiten und Besonderheiten des Sterbfritzer Heiratskreises

Erstmal gar nicht verwunderlich ist, dass bei den meisten Eheschließungen im Heiratskreis die die Braut oder der Bräutigam, die nach Sterbfritz einheirateten, aus den Dörfern kamen, die wirklich nur einen Steinwurf weit entfernt sind, also zunächst Weichersbach, Breunings, Mottgers, Ramholz und Neuengronau. Es fällt jedoch auf, dass das kleine Dörfchen Breunings mit einer so großen Zahl der Einheiratungen nach Sterbfritz einen Spitzenrang einnimmt. Das ist besonders darauf zurückzuführen, dass es seit 1683 ins Kirchspiel Sterbfritz eingepfarrt war.

 

Gleich hinter dieser Fünfer-Spitzengruppe, allein aus ihr stammen über zwei Drittel aller Einheiraten, rangieren Oberzell, Schwarzenfels, Sannerz, Elm und Züntersbach als die beliebtesten Reviere der Sterbfritzer Heiratswilligen. Bei "Sannerz" stutzt der eine oder andere. Gehörte es denn nicht zum Hochstift Fulda, ab 1752 Fürstbistum Fulda? Ja, Sannerz war katholisch, ebenso wie die erzkatholischen Dörfer Weiperz und Herolz. Da aber schon um 1450 Lorenz von Hutten und seinen Nachfahren sechs Höfe, eine Hube und eine Mühle in Sannerz als Mannslehen übertragen wurden, nahmen seine Sannerzer Lehnsleute nach dem im Augsburger Religionsfrieden (1555) niedergelegten Rechtsprinzips "Wes der Fürst, des der Glaub" zwangsläufig die evangelische Konfession ihres Lehnsherrn an. (6) Deshalb erhielten die evangelischen Sannerzer in der Sterbfritzer Kirche den Trausegen. Übrigens: Die kleine evangelische Gemeinde der Sannerzer wurde als Filiale vom Ramholzer Pfarrer betreut; die evangelischen Kinder besuchten seit Beginn der allgemeinen Schulpflicht zunächst die Schule in Ramholz, später dann bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hinein die evangelische Volksschule in Vollmerz.

 

Dass viele junge Leute aus Uttrichshausen nach Sterbfritz einheirateten, obwohl doch die beiden Dörfer mindesten einen strammen dreistündigen Fußmarsch voneinander entfernt sind, ist hauptsächlich auf die engen Kirchenbeziehungen zwischen den beiden Dörfern zurück-zuführen, denn der Sterbfritzer Pfarrer hatte die zur Herrschaft Hanau gehörende evangelische Hälfte des Rhöndörfchens von 1683 bis 1759 seelsorgerisch mit zu betreuen.

 

Dagegen gab es in diesen knapp zwei Jahrhunderten nur vier Eheschließungen mit Partnern aus Schlüchtern und zwei mit einem Partner aus Steinau. Das überrascht einen, denn die beiden Städte waren doch die bevölkerungsstärksten Gemeinden im ganzen Bergwinkel, und sie spielten als kleine Handels- und Verwaltungszentren eine überregionale Rolle, die gewiss bis hin in die Dörfer der Spessartausläufer und der vorderen Rhön ausstrahlte. Eine plausible Erklärung für dieses Phänomen hat der Chronist bisher nicht gefunden. 

 

Brautleute aus der Ferne

Der klassische Ehebund: Mann-Frau auf Lebenszeit

Über die Grenzen des hier beschriebenen Heiratskreises hinaus heirateten nur rund 5 Prozent der Sterbfritzer. Bei diesen seltenen Trauungen kamen Braut oder Bräutigam aus der "Ferne". Namen wie Radmühl, Hettenhausen, Rodenbach, Fischborn, Rotenburg, Gersfeld, und Schmalkalden tauchen da gelegentlich als Herkunftsorte in der Copulati-Rubrik der Kirchenbücher auf.

 

Mehrere "Schulmeister", wie zum Beispiel jener Burckhard Klebe, der 1770 in unserer Kirche die Katharina Lampmann aus Schenklengsfeld ehelichte, waren unter ihnen, auch ein "Chirurgus" namens Joh. Jakob Agricola aus Bieber, der 1762 des Pfarrers Christian Meurers Tochter Sophia heiratete, und immer wieder auch Soldaten, so etwa der "Sergeant" Heymann, den es nach Sterbfritz verschlagen hatte und der hier 1722 mit Georg Schreibers Tochter Elisabetha "copuliert" wurde. 1802 traute der Pfarrer Oberförsters Koch Tochter mit Friedrich von Langenschwalbach aus Hersfeld. Jahrzehnte später, in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Eisenbahnstrecke von Fulda über Sterbfritz nach Gemünden gebaut wurde, schlossen zwei Techniker, einer aus Göttingen, der andere aus Frankfurt Oder, mit Sterbfritzer Frauen den Bund fürs Leben. Aber die da von weither kamen und nach Sterbfritz einheirateten, blieben Ortsfremde. Sie schlugen keine Wurzeln und wuchsen nicht auf Dauer in die Dorfgemeinschaft hinein. Sie spielten nur eine Gastrolle und verließen bald wieder mit ihren Familien unser Dorf. Ihre Namen sind vergessen.

 

Die Sterbfritzer und ihre katholischen Nachbarn

Eine Kluft trennte Sterbfritz von dem nur eine halbe Stunde Fußweg entfernten erzkatholischen Weiperz. (7) Obwohl die Äcker und Wiesen hinten in der Eller und in der Struth aneinanderstießen und man bei der Feldarbeit oder beim Kühehüten ständig aufeinander traf, kam es doch in dem Zeitraum, den wir hier überblicken, nie zu nachbarschaftlichen Begegnungen, geschweige denn zur Vermischung der beiden Dorfgemeinschaften. Von allen Menschen, die sich in diesen fast zwei Jahrhunderten in der Sterbfritzer Kirche das Ja-Wort gaben, kam nicht einer aus Weiperz. Dass sich die Evangelischen und die Katholischen nicht zu nahe kamen, darüber wachten schon die Pastoren und Priester: "Gemischte Liebesbeziehungen" dürfen gar nicht erst zustande kommen, heißt es in einem Appell, "da dergleichen Bekanntschaften schon so weit fortgeschritten" sein können, dass "seelsorgerische Abmahnungen nichts mehr nützen". (8)

 

Alles Katholische war den Sterbfritzern fremd und bedrohlich. Ein Kirchenbucheintrag unter "Defuncti" aus dem Jahr 1760, als der Siebenjährige Krieg unser Land heimsuchte, veranschaulicht das: Da war in Sterbfritz der französische Infanterist Ladouceur, "ein Catholic", gestorben, vermutlich an einer Kriegsverletzung. Pfarrer und Presbyterium (Kirchenvorstand) taten sich unendlich schwer bei der Klärung der Frage, ob man diesen Katholiken überhaupt hier beerdigen dürfe und wie das gegebenenfalls geschehen könne. Man fand schließlich den Ausweg, dass man den Katholiken zwar auf dem Kirchhof begraben wolle, aber dies müsse "linker Hand" geschehen, was so viel heißt, wie "entgegen der Friedhofsordnung" und "un-ehrenhaft". Und selbstverständlich dürfe er nur im geziemenden Abstand von den evangelischen Toten begraben werden, ganz oben am Kirchhofsrand "neben der Breuningser Pforte", dem heute noch vorhandenen Eingang an der Ecke Raiffeisenstraße-Westend, durch den die Breuningser nach altem Brauch zum Gottesdienst kamen. Auch ein Beispiel aus jüngerer Zeit beleuchtet die Kluft, die Evangelische und Katholische trennte: Die Volksschule Sterbfritz hat die achtjährige Kathinka, Tochter des zugezogenen katholischen Buchhalters Schmidt, mit Beginn ihres zweiten Schuljahres am 15. 4. 1915 "der katholischen Volksschule in Weiperz überwiesen". Ob das der Wunsch der katholischen Eltern war, oder ob die evangelische Schulaufsicht die Überweisung anordnete, ist nicht mehr zu ermitteln. Jedenfalls musste das Mädchen von da an einen langen Schulweg nach Weiperz zurücklegen. (Schülerverzeichnis der Volksschule Sterbfritz, Schuljahr 1911/12-1928/29)

 

Doch auch die Menschen in den katholischen Nachbargemeinden waren in ihrer Glaubensüberzeugung nicht weniger dogmatisch als die Evangelischen, galt es doch nach dem katholischen Kirchenrecht noch vor fünfzig Jahren schon als Sünde, überhaupt eine evangelische Kirche zu betreten, geschweige denn einen evangelischen Gottesdienst zu besuchen.

 

Weiträumige Partnersuche der Juden

Ganz anders die Sterbfritzer Juden. Sie beschränkten sich bei der Partnersuche nicht wie die Christen auf das kleine Terrain der eigenen Gemeinde und der unmittelbaren Nachbardörfer im Heiratskreis, sondern sie gingen auf der Suche nach der passenden Partie weit darüber hinaus, grenzüberschreitend bis in den Würzburger Raum, nach Crainfeld und Rimbach im Vogelsberg, nach Lich und Lengsdorf bei Gießen, nach Josbach bei Biedenkopf, nach Mogendorf im Westerwald, nach Iserlohn, Karlsruhe und Alzenau. Warum sie bei der Partnersuche viel beweglicher waren als ihre christlichen Nachbarn und in entfernten Landesteilen auf Brautschau gingen, hat einen gewichtigen Grund: Ihre Gemeinden waren in der christlichen Diaspora verstreut und vergleichsweise klein, und um das Risiko von Erbkrankheiten durch familiennahe Partnerwahl auszuschalten, war es lebensnotwendig für sie, ihre Partner in der Ferne zu suchen. Das war für viele Juden auch leichter als für ihre christlichen Nachbarn. Die waren als Bauern oder Handwerker tagaus tagein an Scholle, Stall und Scheune gebunden, jüdische Handelsleute hingegen kamen im ganzen Land herum, vermittelten Geschäfte und lernten Familien ihrer jüdischen und christlichen Kunden kennen, erfuhren dabei, wer heiratsfähig und heiratswillig war, und wenn einem jungen jüdischen Handelsmann aus Sterbfritz Mitgift und Aussehen eines Mädchens zusagten und – das war letztlich ausschlaggebend – wenn seine und seiner Braut Eltern ihren Segen gaben, führte er sie als seine Frau nach Hause. Für manchen Händler mit professionellem Blick auf den Heiratsmarkt und einem Gespür dafür, ob die jungen Leute und sehr viel mehr noch ihre Familien konfessionell und standesgemäß zueinender passten und die gottgegebene Rangordnung nicht durcheinanderbrachten – denn Stand, Besitz und Interessen waren ausschlaggebend, nicht Liebe -, war die Vermittlung heiratsfähiger und heiratswilliger junger Leute, Christen und Juden, ein lukra-tives Zusatzeinkommen. So wie heute kommerzielle Partnerschaftsbüros Menschen zusam-menbringen, so arrangierte das "Schadchen", wie man den jüdischen Vermittler seit Urzeiten nennt, Kontakte und stiftete Ehen. Gesicherte Daten über die von Sterbfritzer Schadchen vermittelten Ehen gibt es nicht, aber wir nehmen an, dass sie etliche Ehen, vor allem mit Partnern von draußen, angebahnt haben. (9)

 

Im jahrhundertelangen Zusammenleben der Christen und Juden in unserem Dorf gab es nur eine einzige interkonfessionelle Heirat: Das Ungehörige geschah 1933. Am 27. Mai traute der Sterbfritzer Standesbeamte den jüdischen Kaufmann Julius Klein, Brückenauer Straße 38 (Textilkaufhaus) mit der christlichen Schneidermeisterin Anna Margarethe Allenbrandt, Bahnhofstraße 5. Die strenggläubigen Eltern des Bräutigams missbilligten die Heirat, weil ihre Schwiegertochter nicht zum Judentum konvertierte und der 1934 geborene Sohn (Walter) der beiden nach orthodoxer Auffassung deshalb nicht jüdisch war. Die Eltern brachen alle Kontakte mit ihrem Sohn und dessen Familie ab. Julius Klein musste wegen einer akuten Blinddarmentzündung Ende 1934 im Krankenhaus operiert werden; das Schlüchterner Krankenhaus nahm ihn nicht auf, deshalb wurde er in das Jüdische Krankenhaus in Frankfurt/M gebracht. Dort, oder schon auf dem Weg dorthin, starb er am 7. Oktober 1934. Beerdigt wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Altengronau. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn als Schneiderin mit zwei Lehrmädchen in ihrer Werkstatt im Haus mit der heutigen Adresse Am Rathaus 15 (Bäckerei Freund). Ihrem kleinen Sohn ermöglichte sie 1938 die Auswanderung zu Verwandten in den USA.

 

Auswirkungen des technischen und gesellschaftlichen Wandels auf das Heiratsverhalten 

Die Eisenbahn setzte in unserem Land und so auch in unserem Dorf bis dahin nicht vorstellbare Wanderungspotentiale frei und markierte das Ende der Welt von gestern. Sechs Migrationsstadien, die ihren konkreten Niederschlag im Heiratsverhalten in Sterbfritz gefunden haben, lassen sich unterscheiden:

 

1. Eröffnung der Eisenbahnstrecke – Beginn der Moderne

 

Der 6. Mai 1872 markiert den Beginn des gesellschaftlichen Wandels in unserem Dorf, den Übergang von den eher statischen, spätmittelalterlichen Lebensformen hin zur Moderne. An diesem Tag nahm die Eisenbahn auf der Strecke Fulda-Elm-Sterbfritz-Jossa-Gemünden den Betrieb auf. Von nun an holte die Bahn die Menschen unserer Heimat aus ihrem kleinen territorialen Lebenskreis und aus ihrem gesellschaftlich geschlossenen "angeborenen" Lebensumfeld heraus und eröffnete ihnen weiträumig Arbeit und Begegnung im ganzen Land. Sterbfritz wurde mobil. Lebensläufe sind in Bewegung geraten. Sterbfritzer Männer führten Bräute zum Traualter in ihrer Heimatkirche, die sie als Arbeiter irgendwo in Deutschland kennengelernt hatten, und Sterbfritzer Mädchen wurden von Männern geheiratet, die von weither in unser Dorf kamen. Diese Abkehr von alten Lebensformen und dem tradierten Heiratsverhalten vollzog sich nicht von heute auf morgen, sondern in langsamen Schritten in Jahrzehnten.

 

2. Industrialisierung - Zuwanderung von Fachleuten

 

Mit der Eisenbahn siedelten sich jetzt auch Industriefirmen in Sterbfritz an. Deren technisches Leitungspersonal kam von außen, da in unserem Dorf selbst noch keine qualifizierten Fachleute herangewachsen waren. Auch das Fachpersonal für die Eisenbahn, die Post und die Verwaltung kam von außen. Da heiratete, um das an wenigen Beispielen zu verdeutlichen, der Eisendreher Heinrich Vogt aus Offenbach 1888 die Elsabeth Mack, der Briefträger August Grages aus Neersen bei Krefeld 1896 die Katharina Röder und der Berittene Gendarm Richard Nericke aus Loschwitz 1904 die Anna Sang. Doch auch diese Zugezogenen blieben Ortsfremde, wenngleich die meisten in eingesessene Sterbfritzer Familien eingeheiratet hatten. Nach dem Ende ihres Arbeitsverhältnisses oder ihrer Dienstzeit verließen sie mit ihren Familien unser Dorf. Sie hinterließen keine Spuren.

 

 

3. Vorkriegszeit und Zweiter Weltkrieg – Weiträumige Begegnungen

Deutlich gestiegen ist dann die Zahl der Eheschließungen mit Partnern und Partnerinnen aus der Ferne seit der Aufrüstung der Wehrmacht (1936) und im Zweiten Weltkrieg (1939-1945). Sterbfritzer Soldaten brachten im Urlaub Kameraden mit nachhause, und mancher von ihnen verliebte sich in ein Sterbfritzer Mädchen und führte es zum Traualtar. Und die properen Mädchen unseres Dorfes lernten in ihrem Einsatz als Rotkreuzschwestern oder Wehrmachtshelferinnen (10) weit draußen ihre Künftigen kennen und schlossen zuhause in ihrer Kirche den Bund fürs Leben mit ihnen. Namen wie Böhmer, Freudenberg, Wolf, Kubeil, Otto Schneider, Dinter, Bornkessel, Lantermann und Blöchl sind Beispiele für Einheiraten in dieser Periode.

 

4. Flüchtlinge und Vertriebene – Totale Durchmischung des Dorfes

 

Doch die totale Durchmischung erlebte unsere Dorfgemeinschaft dann in den ersten Nachkriegsjahren (1945 ff.), mit einer in der deutschen Geschichte noch nie dagewesenen Migrationswelle: Die 1200 Alt-Sterbfritzer mussten zusammenrücken und ihre Häuschen und Wohnungen mit den überwiegend katholischen 800 Neuankömmlingen teilen, den bettelarmen Flüchtlingen und Vertriebenen. Eine Obergrenze gab es ebenso wenig wie auch nur Ansätze einer Willkommenskultur. Der Befehl der Militärregierung war eindeutig: Die Flüchtlinge und Vertriebenen sind unterzubringen, ohne Wenn und Aber. In den ersten Jahren wurden noch relativ viele Ehen zwischen den Vertriebenen und Flüchtlingen selbst geschlossen. Reinhardt und Zank, Maul und Wink, beide Paare aus Alsonana in Ungarn, Sedlatschek und Gabriel, Zeidler und Peyerl, Ullmann und Schlögl, Landsgesell und Prem, Gottwald und Sladek, alle aus dem Sudetenland, sind Beispiele dafür. Aber es dauerte kein Jahrzehnt, bis man Heiraten zwischen alteingesessenen Sterbfritzern und den zugezogenen Habenichtsen nicht mehr als eine Art Regelverstoß empfand und im Dorftratsch durchhechelte, sondern sie als ganz "normal" zur Kenntnis nahm. So sind die Eheschließungen der Neuen mit den Sesshaften ein Indiz dafür, dass sie sich in die Sterbfritzer Dorfgemeinschaft eingelebt hatten und von den Alten angenommen wurden. Von den vielen Eheschließungen zwischen den Neuen und den Alt-Sterbfritzern sind hier nur einige wenige exemplarisch genannt: Gärtner und Schneider (Sudetenland), Gärtner und Kiesow (Pommern), Hohmann und Schlattner (Schlesien), Grieger (Schlesien) und Gärtner, Gössinger und Kischel (Schlesien), Weigand und Raudies (Ostpreußen), Gunkel und Kasse (Danzig), Sperzel und Rohmann (Ungarn), Kehm und Landsgesell (Sudetenland). Nachhaltig gefördert wurde die Integration der Neubürger in die Dorfgemeinschaft von den Vereinen, namentlich der SG Germania 1919 und dem Turnverein 1903. Das Vereinsleben erleichterte es ihnen, mit den Traditionen und Mentalitäten der alten Sterbfritzer vertraut zu werden und sich ihnen anzunähern. Und umgekehrt übernahmen die Alt-Eingesessenen vieles von dem, was sie aus ihrer Heimat Schlesien, Sudetenland und Ostpreußen mitgebracht hatten. Nach einer Generation hatte sich die Dorfgemeinschaft neu geordnet: Die Neuen waren "echte" Sterbfritzer geworden, was sich u. a. auch in der Wahl der ersten Sinntaler Bürgermeister spiegelt: Beide kamen als Vertriebene zu uns: Hans-Eberhard Priemer (1974-1998) aus Schlesien und Johann Heberling (1998-2004) aus Ungarn. So weit zu den Nachkriegsjahren.

 

5. Öffnung gegenüber Europa - Gastarbeiter

 

Von den 1960er Jahren an bekam unser Dorf Zuzug von Menschen aus anderen europäischen Ländern wie Italien, Portugal, Jugoslawien und Spanien sowie aus der Türkei, Menschen, die unsere boomende Wirtschaft in den Wirtschaftswunder-Jahren brauchte, und die wir als Gastarbeiter willkommen hießen. Die Rechnung, dass sie nach ihrem befristeten Arbeits-aufenthalt wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden, ging nicht auf. Sie holten ihre Familien nach und blieben bei uns; 2 Millionen sind es in Deutschland, mehrere Familien auch in unserem Dorf.

 

6. Öffnung gegenüber der ganzen Welt – Zuwanderer aus aller Herren Länder

 

Noch bunter und internationaler wurde Sterbfritz dann seit den 1980er Jahren: Zunächst kamen Deutsche aus Russland als Spätaussiedler, besser sollte man sagen "Heimkehrer", denn es waren ja keine Fremden. Ihre Urahnen, darunter viele aus dem Bergwinkel, wanderten vor 250 Jahren ins Riesenreich der russischen Zarin Katharina aus.

 

In derselben Zeit kamen im Zuge der Globalisierung aller Lebensbereiche Zuwanderer aus aller Herren Länder, die wir bis dahin der sogenannten Dritten Welt zugeordnet und allenfalls aus den Nachrichten gekannt hatten. Der Strom der Zuwanderer hält in unseren Tagen an, scheint anzuschwellen. In jüngster Zeit vertreiben Kriege und Hunger Hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat im vorderen Orient und in Afrika. Ihr Ziel ist Europa, ihr Wunschziel Deutschland. Manche werden auch in unserem Dorf ankommen und auf Dauer hier bleiben. Sie werden den Trend zu einer multi-ethnischen, multi-religiösen und multi-kulturellen Einwohnerschaft in unserem Dorf beschleunigen. Schon derzeit leben 211 Angehörige von nicht weniger als 27 Nationalitäten in Sterbfritz: Von Afghanen und Arabern über Syrer, Pakistaner, Philippiner und Somalier bis zu Vietnamesen. Nicht einzuschätzen, wie das künftige Heiratsverhalten der alten und der neuen Sterbfritzer und all jener, die noch kommen werden, die Dorfgemeinschaft und das dörfliche Leben prägen werden.

 

Ende der traditionellen Ehe?

Das Heiratsverhalten der Sterbfritzer, wie wir’s aus den Kirchenbüchern von 1683 bis zu deren Ablösung 1874 kennen gelernt haben, gehört der Geschichte an. Wie es sich seither bis in unsere Tage hinein erweitert und gewandelt hat und ob derzeit erprobte Zweier-Modelle wie Ehe auf Probe, Ehe auf Zeit, Ehe ohne Trauschein, gleichgeschlechtliche Ehe, offene Ehe u. ä. künftig die klassische Ehe auslaufen lassen und ganz neue Wege des Heiratsverhaltens und der "Verpartnerung" hervorbringen – all diese Trends zu analysieren und zu deuten, bleibt späteren Untersuchungen vorbehalten.  

 

Anmerkungen, Quellen- und Literaturhinweise

 

  1. Das Sterbfritzer Kirchenbuch, begonnen 1683, dokumentiert von Anfang an auch alle Geburten, Konfirmationen, Heiraten und Todesfälle des Dorfes Breunings, da es zum Kirchspiel Sterbfritz gehörte. Ebenso war der evangelische Teil des Dorfes Uttrichshausen von 1683 an bis zu seiner Zuordnung zur Pfarrei Oberkalbach im Jahr 1759 nach Sterbfritz eingepfarrt. Demgemäß enthält das Sterbfritzer Kirchenbuch auch alle einschlägigen Vorgänge der evangelischen Hälfte des Dorfes Uttrichshausen. Das bedeutet, dass in der Sterbfritzer Kirche auch alle Paare aus Breunings und Uttrichshausen getraut wurden. Diese Trauungen bezieht unsere Untersuchung nicht mit ein, sondern, wie dargelegt, nur die Eheschließungen der Paare, bei denen beide Partner oder ein Partner / eine Partnerin eingesessene Sterbfritzer waren.
  2. Die Kirchenbücher der evangelischen Gemeinde Sterbfritz, von 1683 bis heute, sind im evangelischen Pfarramt Sinntal-Sterbfritz archiviert, die 1874 begonnenen Personenstandsregister der Gemeinde Sterbfritz, des späteren Sinntaler Ortsteils Sterbfritz, werden in der Gemeindeverwaltung Sinntal-Sterbfritz aufbewahrt.
  3. "Copulati" Rubrik der Eheschließungen in den Kirchenbüchern, neben den Rubriken "Baptizati", Taufen, und "Defuncti", Verstorbene.
  4. Verse aus einem Gedicht von Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769)
  5. Die wenigen Gemeinden im Heiratskreis, aus denen in den nahezu zwei Jahrhunderten nur ein Bräutigam oder eine Braut nach Sterbfritz einheirateten, bleiben unberücksichtigt.
  6. Sie dazu Hermann Tilp, "Nach der Billigkeit gütlich vergleichen" - Der Vergleich zwischen den Herren von Degenfeld und dem Hochstift Fulda über das Dorf Sannerz im Jahr 1724; unveröffentlichtes Manuskript.
  7. Bis zur Reformation gehörte auch Weiperz zum Kirchspiel Sterbfritz; 1545 trennte es sich aber von diesem und blieb katholisch.
  8. "Die gemischte Ehe – Ein seelsorgerisches Wort" Buchbesprechung in der "Schlesischen Volkszeitung" Nr. 158 (1871?). Zitiert nach Wikipedia, Die interkonfessionelle Ehe.
  9. Im Gebiet, das zum Landkreis Schlüchtern (von 1821-1974) gehörte, bestanden in der Zeit, die wir hier betrachten, 13 jüdische Gemeinden: Altengronau, Züntersbach Oberzell, Heubach, Uttrichshausen, Sterbfritz, Vollmerz, Elm, Schlüchtern, Hintersteinau, Romsthal-Eckardroth, Ulmbach und Salmünster. Dazu: Michael Boele: Die jüdischen Gemeinden im Altkreis Schlüchtern. In: Unsere Heimat. Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V., 4 / 1988, S. 57-68. Zur Geschichte der Sterbfritzer Juden siehe u. a. Henry D. Schuster, Von Sterbfritz nach Las Vegas. Hanau 2011; und Thomas Müller, Max Dessauer (1893-1962) – Ein Sterbfritzer Jude, sein Leben und seine Erinnerungen an die "unbeschwerte Zeit", in: Beiträge zur Geschichte jüdischer Sterbfritzer, Unsere Heimat – Mitteilungen des Heimat- und Geschichtsvereins Bergwinkel e.V. Schlüchtern 1998, Nr. 14
  10. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs dienten in der deutschen Wehrmacht etwa eine halbe Million Wehrmachtshelferinnen. Sie leisteten Hilfsdienste, z. B. als Funkerinnen, in der Reichsluftverteidigung und im Militärsanitätsdienst.

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