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Sterbfritzer Dorfchronik
Sterbfritzer Dorfchronik

Das Dickeboste Russje

Die wundersame Begegnung eines Sterbfritzer Soldaten im tiefen Rußland

von Ernst Müller-Marschhausen

 

In unserem Leben ereignen sich außergewöhnliche Begebenheiten, die über den Rand des Fassbaren hinausgehen. Sie muten uns an, als seien sie der Fantasie eines Romanschreibers entsprungen. Und doch sind sie nichts als die pure Wirklichkeit. Eine solche Begegnung hatte der Sterbfritzer Johannes Sperzel als Soldat im Russlandfeldzug zu Beginn des Kriegswinters 1941/42. Alles, was er als Soldat des 10. Pionierbataillons der 10. Infanteriedivision an Grausamkeiten in diesem Vernichtungskrieg erlebt und erlitten hat, wurde in seiner Erinnerung von jenem emotional prägenden Erlebnis in einem Dorf an der Rollbahn überlagert, zwischen den zentralrussischen Städten Orel und Tula gelegen. Bis in sein hohes Alter hinein erzählte er es seiner Familie, seinen Freunden und Nachbarn in immer derselben Fassung. Seinen Söhnen Johannes und Helmut war die Geschichte so bedeutsam und mit den Jahren so vertraut geworden, dass sie sie Wort für Wort behalten haben und künftigen Sperzel-Generationen weitergeben wollen.

 

Geboren wurde Johannes Sperzel im Jahr 1921 im Haus seiner Eltern, kleiner Kühbauern, in der Brückenauerstraße 7. Es grenzte unmittelbar an das ansehnliche Gehöft des Konrad Hartmann, eines der wenigen Pferdebauern im Dorf, von allen schon seit eh und je nur Deckeboste genannt. Gerade war der 18jährige Johannes als Maurergeselle freigesprochen worden, als ihn auch schon der Reichsarbeitsdienst (RAD) holte und ihn beim Bau des Führerhauptquartiers Adlerhorst in Ziegenberg, Wetterau, einsetzte. Und sofort im Anschluss an seinen einjährigen Dienst als RAD Arbeitsmann rekrutierte ihn die Wehrmacht zur Grundausbildung bei den Pionieren in Hanau-Wolfgang. Er wurde als Pionier der 10. Infanteriedivision zugewiesen. Sie wurde Anfang 1941 nach Polen verlegt und kämpfte nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 im Verband der Heeresgruppe Mitte im Vorstoß auf Moskau.

 

Pionier Johannes Sperzel vor seinem Elternhaus (Foto privat)

Es war an einem Abend, begann Johannes Sperzel immer zu erzählen, als das Thermometer schon bis an die 40 Grad hinunterreichte und der Vormarsch wegen der tiefen Temperaturen nahezu zum Erliegen. Der Befehl, Biwak zu machen, wurde ausgegeben. Wir kamen mitten im Dorf vor einer Bauernhütte in einem geräumigen Hof mit Panjewagen und allerlei bäuerlichen Gerätschaften zum Stehen.

 

Der Besitzer, ein abgearbeitetes kleines Männchen, dessen Alter sich schlecht schätzen ließ, kam auf mich und meinen Kameraden zu und machte uns in holprigem Deutsch und wild gestikulierend den Vorschlag, dass wir die Nächte in seinem Haus verbringen könnten. Ihn und seine Familie würde das nicht stören. Wir folgten nur allzu gerne seiner Einladung. Sein ganzes Zuhause bestand aus einer rechteckigen großen Stube: Schlafbänke, Tisch und Stühle alles um den Ofen herum platziert, an Haken an den Wänden Säge und Schaufeln und Spaten, an Leinen hing Wäsche zum Trocknen, in einer Wand der Durchgang zum Stall hinein. Alles unter einem Dach - Wohnen, Schlafen, Arbeiten, Essen, Stallwärme. Mochte der Raum noch so armselig und die Luft zum Schneiden stickig gewesen sein – es war hier drinnen immer noch besser, als draußen irgendwo festzufrieren.

 

Russischer Bauer um 1940 (Symbolfoto)

Wir zwei Landser unterhielten uns über Übliches: Dass die Feldpost seit Tagen ausgeblieben ist. Dass das Brot wieder steinhart gefroren ist. Ob der Proviantwagen wohl wieder stecken geblieben ist. Latrinenparolen wurden kolportiert. Der Hausherr hörte uns wie beiläufig zu, aber doch mit wachem Interesse, und wandte sich schließlich zu mir und fragte, woher ich käme. Immer, wenn man mir im Kameradenkreis diese Frage stellt, pflege ich fast schon automatisch „aus der Gegend Frankfurt am Main“ zu antworten. Durchwegs genügt das dem Frager auch, zumal es sich oft ja ohnehin nur um so eine Floskel handelt, mit der man bei jemand einfach mal so ein Gespräch über ein x-beliebiges Sache anbahnen will. Aber ganz überraschend drängte mich das neugierige russische Bäuerchen hier in einem Kaff mitten in Zentralrussland weit über 2000 km weit weg von meiner Heimat, dass ich es ihm „weiter“ sagen solle. Ich stutzte, weil ich mir keinen Reim darauf machen konnte, dass er ein sachlich begründetes Interesse daran haben könnte, meinen Wohnort im fernen Deutschland genauer zu erfahren. Aber ich ließ mich auf das Spiel ein und sagte, ich käme aus der „Region Fulda“. Doch kaum gesagt, drängelte er schon wieder mit seinem „Weiter, Weiter“ , und so nannte ich ihm schließlich „Schlüchtern“, in der Hoffnung dass er’s mit der Befragung jetzt bewenden ließe. Denn was kann der kleine Russe schon mit Städtenamen wie Frankfurt und Fulda oder gar Schlüchtern anfangen, dachte ich. Aber jetzt, noch schneller als zuvor und mit gesteigertem Nachdruck, kam seine Ansage „noch weiter, noch weiter“, und ich nannte schließlich „Sterbfritz“. Da ging ein Lächeln über sein Gesicht, und in der Pose eines Zauberers, dem gerade zur Verblüffung seiner Zuschauer ein Kunststück gelungen war, sagte er entspannt und stolz „Sterbfritz. Das habe ich gleich gewusst“.

 

Ich war wie vor den Kopf gestoßen, auch dem Kameraden hatte es die Sprache verschlagen. Und ich rätselte: Woher kann dieses Bäuerchen im tiefen Russland wissen und mit solcher Gewissheit sagen, dass ich aus Sterbfritz komme? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Jetzt war’s an mir, ihn zu bedrängen, damit er die Katze aus dem Sack zu lässt. Nichts war ihm lieber als das. Er genoss es geradezu, seine Geschichte ausgiebig lang und breit zu erzählen, übrigens in einem Tonfall, den ich irgendwie als heimisch verspürte:

 

Dass er als Soldat des Zaren 1916 wie über eine Million seiner Kameraden in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war, dass die fleißigen Muschiks den Bauern zugeteilt wurden, weil ja die deutschen Männer im wehrfähigen Alter alle im Krieg waren, und dass er dem Bauern Hartmann in Sterbfritz, mit dem Hausnamen Deckeboste, zugewiesen wurde.

 

Hier habe er über zwei Jahre lang alle Arbeiten gemacht, die in so einem vergleichsweise großen Bauernhof anfallen: Vom Stallmisten und Pferdestriegeln bis zum Ackern, Dreschen und Heumachen. Und auch den Nachbarn der Deckeboste sei er Tag für Tag begegnet, dem „ale Hatt“ und dem „ale Merxje“. Ja, und hier in dieser Ecke habe er auch, sagte er stolz, „Deutsch“ gelernt.

 

Gehöft des Pferdebauern Konrad Hartmann, genannt Deckeboste (Fotoarchiv Chronik Team D. Ebenhöch)

 

Das Deutsch aber, das er in den zwei Jahren Gefangenschaft gelernt hatte, war ausschließlich die „Starwetzer Oart“ des Deutschen, unsere Mundart mit ihren vielen eigenen Begriffen und Bezeichnungen. Aber mehr als Wörter und Benennungen war es der unverwechselbare Klang unserer Sterbfritzer Mundart, den er sich in den beiden Jahren zu Eigen gemacht, es war das lautliche Wie unserer Mundart, das er verinnerlicht hatte, diesen Klang, den man ja nicht schreiben, nur sprechen und hören kann. Hätte das Schicksal den kleinen Russen zu einem Bauern in Oberzell oder in Heubach verschlagen, wäre er mit der Gewissheit in seine russische Heimat zurückgekehrt, dass die Oberzeller oder die Heubacher Mundart wegen ihrer eigenen Klangfarbe die „eigentlichen Deutschen“ seien.

Was sich nicht so „anhörte“ wie das Sterbfritzer Gesprochene, das war für ihn deshalb nicht Deutsch. Und Deutsch, das war für ihn nun allein die „Starwetzer Oart“. Ein anderes Deutsch hatte er ja nie kennengelernt. Bestimmt waren Soldaten mit ausgeprägt schlesischem, bayrischem oder norddeutschem Dialekt für ihn irgendwie keine „richtigen“ Deutschen. Es waren nicht so sehr eigenartige Mundartwörter, wie sie in unserem Dorf im bäuerlichen Alltag gebräuchlich sind, wie etwa „Motschje“, „Dütze“, „Matte“ oder „biese“, sondern es waren, wie gesagt, nur der Tonfall, der Klang und die Lautfärbung, mit der wir Sterbfritzer unsere Worte und Sätze aussprechen. Das Rätsel war gelöst: Das russische Bäuerchen hat mich am Wie meines Sprechens als Sterbfritzer erkannt. Allein an der Art und Weise, WIE ich als Ur-Sterbfritzer nun einmal spreche, an Tonfall und Klangfärbung, mit der ich meine Wörter und Sätze aussprach.

 

 

Unsere Kompanie bezog schon am nächsten Tag einen neuen Bereitstellungsraum, weiter gegen Osten. Das Deckeboste Russje habe ich nie mehr wiedergesehen. Ob er und seine Familie den Krieg überlebt haben, oder ob sie unter den Opfern der Millionen Ziviltoten waren, habe ich nie erfahren. Aber die gute Erinnerung an die Begegnung mit ihm behielt ich für immer - die Erinnerung an jenen Augenblick, als er in unserem unverwechselbaren Sterbfritzer Dialekt von Deckeboste erzählte, von ihren Wiesen und Äckern im Schlanggroawe, in der Ähäll und im Buch, vom Alltag in Hof und Stall, vom Kinzgraben entlang der Hauptstraße, von den Nachbarn, so auch vom „ale Hatt“, der kein anderer als mein Opa Hartmann Sperzel war, und von den beiden Hungerjahren wegen der Kartoffelfäulnis, in denen auch die Menschen in unserem Dorf bitter gelitten hatten, der Bauer wie der Kriegsgefangene. In diesem Augenblick waren wir uns - der Soldat der noch sieggewohnten Wehrmacht und das russische Bäuerchen, doch wohl ein slawischer Untermensch, wie wir’s in der Schule gelernt hatten – in diesem Augenblick waren wir uns in irgendeiner Weise, ohne dass ich’s fassbarer beschreiben könnte, auf einer nachbarschaftlich menschlichen Ebene begegnet.

 

Johannes Sperzels weiterer Lebensweg in groben Zügen: Auf dem Vormarsch nach Osten und in der Winterstellung erfroren ihm die Füße. Nach dem Lazarettaufenthalt von fast einem Jahr in Wien wurde er zunächst einer Genesungskompanie zugewiesen, zum Unteroffizier befördert und als Ausbilder am Divisions-Standort Regensburg eingesetzt. Wenig später wurde er an die Westfront abkommandiert, und zwar zu einer Pioniereinheit, die V1 und V2 Abschussrampen an der Kanalküste baute. Gegen Kriegsende hat sich seine Rest-Kompanie in die von der britischen Armee kontrollierten Gebiete abgesetzt in der Hoffnung auf die Behandlung als Kriegsgefangene nach der Genfer Konvention. Glücklicherweise stellten ihn die Engländer zum Einsatz in einem großen Bauernhof im heutigen Schleswig-Holstein ab. Bald darauf wurde er einem Gefangenentransport nach Frankreich zur Arbeit im Wiederaufbau, in Bergwerken oder in der Landwirtschaft zugeteilt. Doch im Raum Gießen übernahm die US-Armee seine Gruppe und transportierte sie nach Frankfurt am Main. Von dort schlug er sich nach Hause durch. Er heiratete 1949 die Margarethe Ullrich. Ihrer Ehe entsprangen die beiden Söhne Johannes und Helmut. Und hier, in seinem Haus in der Weiperzer Straße Nr. 3, lebte er als ehrbarer Handwerker und Landwirt und als fürsorglicher, stolzer Familienvater bis zu seinem Tod im gesegneten Alter von 95 Jahren.

 

Febr. 2022

 

 

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