Seit wann gibt es einen Tierarzt in Sterbfritz?
Vermutlich seit November 1908, denn da kam Dr. Bergien, frisch promovierter Tierarzt, mit seiner Frau in Sterbfritz an. Dr. Bergien und Dr. Zarnack - diese beiden Namen stehen noch heute für die Geschichte der Tiermedizin in Sterbfritz und der Region.
… erblickte 1882 in Tiergart, Kreis Marienburg/Westpreußen, das Licht der Welt. Der Vater war Lehrer und nicht allzu sehr erfreut, dass der Sohn Tiermedizin studierte, zunächst in Gießen, dann in Leipzig und abschließend an der Tiermedizinischen Hochschule Hannover (1902 bis 1908). In Hannover lernte Dr. Bergien auch seine spätere Frau kennen. Mit ihr gemeinsam wählte er Sterbfritz für seine geplante Tierarzt-Praxis aus. Von einem Bekannten aus Thüringen hatte er erfahren, dass es sich um einen landschaftlich schön gelegenen Ort handle, an dem es noch keinen Tierarzt gab.
In Sterbfritz angekommen fand das Paar eine Wohnung in der ehemaligen Post (neben Bäckerei Freund, früher Schulstraße, heute Am Rathaus). Auf der Suche nach Wohn- und Praxisräumen wählte er unter drei Häusern aus, die seinerzeit von Maurermeister K. Mack (Opa von Karola Blöchl) erbaut worden waren, und entschied sich für das jetzige Haus der Familie Zarnack in der Feldstraße 2. Dort wurde die erste Tierarztpraxis des Ortes eröffnet und auch die neuen Wohnräume bezogen. Es dauerte nicht lange, bis sich Nachwuchs einstellte: die Töchter Erika (*1909) und Gisela (*1920) wurden geboren. Nach dem Tod von Dr. Bergiens Mutter holte er seinen Vater aus der Heimat Westpreußen nach Sterbfritz, wo er bis zu seinem Tod 1935 bei der Familie lebte. Die Töchter Erika und Gisela wurden im Zweiten Weltkrieg Witwen.
Dr. Walter Bergien genoss in unserer Gemeinde hohes Ansehen, sowohl als Tierarzt, wie auch als Mensch, Familienvater und Freund. Seine Kunden, Tiere und Halter der Region wurden von ihm mit dem Pferdewagen besucht, bis seine Tochter Gisela ihre Fahrerlaubnis hatte und ihn chauffieren konnte. Er selbst weigerte sich zeitlebens, den Führerschein zu machen. Während der Nazi-Zeit ließ er es sich nicht nehmen, auch die Tiere von Juden weiter zu behandeln und verarmte Juden heimlich zu unterstützen. Für diese Hilfsbereitschaft unter Lebensgefahr bedankte sich die „Jüdische Gemeinde Frankfurt“ 1962 schriftlich bei Frau Bergien. Tochter Gisela hingegen litt in dieser Zeit sehr unter den Hetztiraden gegen ihre Familie. Nächtliche Rufe wie „hier wohnt ein jüdisches Schwein“ waren für sie, die beim BDM war, sehr schlimm und damals auch unverständlich.
1946 verstarb Dr. Walter Bergien im Alter von 64 Jahren.
… wurde 1917 in Königsberg/Ostpreußen geboren. Nach Studium (1936 bis 1940 Tierärztlichen Hochschule Hannover) und dem danach folgenden Marschbefehl zur Veterinärkompanie nach Reichshof in Polen hatte er Gelegenheit theoretische und praktische Kenntnisse zu erweitern. 1943 promovierte er bei Prof. Hupka von der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Der Zweite Weltkrieg brachte ihn nach Polen, Russland und Serbien und er musste nach dem Krieg eineinhalb Jahre in Gefangenschaft verbringen. Besonders schlimm war für ihn die Vertreibung aus der geliebten Heimat und so kam er am 12. Februar 1947 in Sterbfritz bei Familie Bergien an. Er versprach, seine Pflicht als Tierarzt zu tun, und die Familie zu unterstützen, soweit er konnte. Dabei ist der Begriff „Pflicht“ nicht wörtlich zu nehmen – er betrachtete seinen Beruf als Berufung. Im winterlichen Sterbfritz bei etwa minus 18 Grad Kälte unternahm er seine ersten Praxisfahrten mit dem Opel P4 der Familie.
Über Arbeitsmangel konnte Dr. Zarnack nicht klagen - Ferkel- und Kuhgeburten, Gebärmuttervorfälle, Bruchferkel operieren, Fremdkörper entfernen, die Behandlung von Wildtieren – sein Betätigungsfeld war umfangreich. Im Laufe seines 53-jährigen Praktizierens in Sterbfritz und Umgebung wurde er dafür nicht immer mit Geld entlohnt, denn besonders in der Anfangszeit seines Wirkens passierte es häufig, dass seine Arbeit mit üppigen Mahlzeiten und Naturalien honoriert wurde.
In den 60er Jahren wurde das zum Wohnhaus gehörende Wirtschaftsgebäude mit Stall und Scheune zum Teil abgerissen und neu gebaut. Im Erdgeschoß entstanden neue Praxisräume und oben im Gebäude wurde eine Wohnung (für Verwandte) eingerichtet die später Unterkunft für Praktikanten wurde.
Der Privatmann Dr. Ulrich Zarnack, von Freunden Uli genannt, heiratete 1948 Gisela, jüngste Bergien-Tochter, Witwe und Mutter eines Sohnes. Die Familie vergrößerte sich im Laufe der Jahre, Harald durfte sich über die Geschwister Vera, Brigitte und Wolfram freuen. Ein weiteres, aus dem Hause Bergien/Zarnack nicht wegzudenkendes Familienmitglied, war Elly Gabriel. Sie war für den Haushalt zuständig und nebenbei noch eine Art Tierarzthelferin. Elly, Tochter von sudetendeutschen Eltern, die eine Wohnung in dem Posthaus in der Schulstraße bewohnten, war mehr als 60 Jahre lang, bis kurz vor ihrem Tod in 2011, der Familie treu.
Zarnacks hatten einen großen Kreis von Freunden aus allen Schichten der Bevölkerung und darauf war Dr. Zarnack sehr stolz. Seine Begründung: Seine Eltern hätten ihm den Kern des Guten, Schönen und Erhabenen in sein Herz gepflanzt. Sie hätten ihn geprägt, fröhlich, selbstbewusst und doch bescheiden zu sein, und jedem Menschen der in Not oder hilfsbedürftig ist, zu helfen. Bereits in jungen Jahren war ihm Sport sehr wichtig und so setzte er sich bis zuletzt besonders für die Belange der Jugend ein. Aufgrund seiner großen Verdienste um die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG) und für Gründung und Leitung der DLRG Ortsgruppe Sterbfritz sowie des Tennisverein Grün-Weiß Kinzigquelle, deren Ehrenvorsitzender er war, wurde ihm 1993 der Ehrenbrief des Landes Hessen durch Landrat Karl Eyerkaufer verliehen. (Zitat in der Presse vom 04.Febr.1993 „Ein Pionier für Sterbfritz“)
2007 verstarb Dr. Ulrich Zarnack im Alter von 90 Jahren.
Alles über Leben und Wirken des Dr. Ulrich Zarnack kann man in seinem, im Jahr 2000 erschienenen Buch „Und so zog ich meine Straße fröhlich“ lesen. Das Buch kann vom Chronikteam ausgeliehen werden.
… übernahm 1986 die Praxis von Dr. Zarnack in der Feldstraße 2a.
Nach dem Studium (1975 bis 1980 an der Justus-Liebig Universität Gießen) hatte er bereits Erfahrungen während seiner Assistenztätigkeit (1981 bis 1985) gesammelt (Doktorarbeit und Promotion, Uni
Gießen).
Ab 1988 führte er die Praxis im eigenen Wohnhaus „Am Buch“ weiter. Wegen erhöhtem Platzbedarf wurde 2015 in der Feldstraße das neue Praxisgebäude bezogen.
Standen bei den Vorgängern Dr. Bergien und Dr. Zarnack noch die landwirtschaftlichen Nutztiere im Mittelpunkt, wuchs die Bedeutung der Kleintiere als Patienten in den letzten 30 Jahren zunehmend. Der
landwirtschaftliche Strukturwandel, auch in unserer Region, führte zum Verschwindenden der bäuerlichen Kleinst- und Kleinbetriebe. So werden zwar weiterhin, wie in der traditionellen Tierarztpraxis,
alle Tierarten versorgt, die deutliche Mehrheit der Patienten stellen aber die Kleintiere. So werden heute auch die 4-beinigen Familienmitglieder mit modernen tiermedizinischen Verfahren –digitales
Röntgen, Ultraschall, Labor, Inhalationsnarkose- in den neuen Räumen intensiv betreut. Zwei Tierärzte und fünf Helfer/innen kümmern sich dort derzeit um das Wohl der 4-beinigen Patienten.
Quellennachweis
Alle Informationen, Aufzeichnungen, Dokumente und das Buch „Und so zog ich meine Straße fröhlich“ wurden mir von Gisela Zarnack und ihrer Familie zur Verfügung gestellt. Gespräche im Hause Zarnack -Aug. 2017- versetzten mich in die Lage den Bericht über die „Tierärztliche Versorgung in Sterbfritz“ zu schreiben. Ich bedanke mich ganz herzlich für die freundliche Aufnahme im Hause Zarnack und für alle mir überlassenen Unterlagen. Ein weiteres Dankeschön an Dr. Bittner für die konstruktiven Informationen über die tierärztliche Gegenwart.
Bereits bei unseren Schaufenstern anlässlich unserer 1200-Jahr-Feier in 2015 konnten wir mit uns überlassenen Instrumenten die Anfänge des tierärztlichen Wirkens der Familie der Öffentlichkeit
zeigen.
Erstellt im November 2017
Doris Alt