Zeitzeugin Martha Rotter geb. Wiesner über die Vertreibung der Familie Wiesner aus Rohle/Kreis Hohenstadt, Sudetenland
Eine Frau, zwei Geburtstage 1): Martha Rotter geb. Wiesner, heute wohnhaft in Sterbfritz, wurde vor Mitternacht in Rohle im Kreis Hohenstadt im heutigen Tschechien geboren. Am 29. November 1925 – das dachten sie und ihre Familie jedenfalls. Zeugnisse ihrer Schulzeit, der Schulbehörde des Deutschen Reiches, tragen alle das Geburtsdatum 29.11.1925.
Erst zwei Jahrzehnte später bewies ein Dokument, das von der Ceskoslovenská republika am 12. November 1945 (12. Listopad 1945) ausgestellte Geburts- und Taufblatt (Rodní a Krestni List), dass es bereits der 30. November war, an dem sie zur Welt kam. Im Trubel der Geburt war das untergegangen. Eine Anekdote über die Martha Rotter mit ihrer Familie gerne schmunzelt. In 2020 kann sie, wie so viele Geburtstage vorher, gemäß amtlichen Dokumenten am 30. November ihren 95. Geburtstag feiern 2).
Rohle war bis zum Sommer 1946 die Heimat von Martha, ihren Eltern und ihrem Bruder Bernhard. Was dann passierte, hat sie, die damals erst 21 Jahre alt war, geprägt. „Es beschäftigt mich immer noch. Wir wurden ja nicht von Fremden vertrieben. Man kannte sich, hatte zusammen die Ernte eingebracht, sich in der Nachbarschaft geholfen. Wir Kinder besuchten die deutsche Schule in der auch tschechisch unterrichtet wurde, um die Sprache zu lernen“, berichtet sie. Als junge Frau habe Martha, wie sie es heute sagt, die Zusammenhänge der Ereignisse noch nicht überblickt. „Angst hatten wir nicht mehr, bis 1946 war so viel Schlimmes passiert, das Gefühl war einfach aufgebraucht“ waren ihre Worte. Ihren Heimatort Rohle hat sie nie wieder besucht. „Mein Vater wollte das nicht. Er sagte, die haben uns rausgeworfen, da gehen wir nicht mehr hin.“ Auf eine Rückkehr habe sie trotzdem immer gehofft. Sie findet: „Wir haben für Hitlers Verbrechen die Zeche bezahlt.“
Bevor die Familie Rohle verlässt, ist es der Vater, der versucht, Mut für den Neuanfang zu verbreiten. „Er pflegte zu sagen: Wir bekommen im Urwald ein Stück Land und bauen uns ein Haus darauf“, wiederholt Martha des Vaters Worte.
Vor der Abfahrt in Viehwaggons packte man Hab und Gut in Holzkisten und jede Person erhielt den „Transportzettel für Evakuanten“. Die Menge des Gepäcks war pro
Person begrenzt. Auf den Kisten standen unter anderem der Familienname, die Waggonnummer und der bisherige Wohnort. Neben Kleidung und vorgebackenem Brot nahm man auch wichtige Dokumente mit, z.B.
Schulzeugnisse, Fotos und auch Geld.
Drei Tage und Nächte hatte die Zugfahrt gedauert bis die Familie im Lager Mottgers ankam. Die Entlausung und Untersuchung des Transportes erfolgte in Wiesau/Oberpfalz, dort erhielt man den „Gesundheitsschein“ ausgestellt. Der Gesundheitsschein enthielt u.a. Verhaltensregeln, aber ohne diesen Schein wären weitere Papiere nicht erhältlich gewesen, z.B. Registrierschein, Lebensmittelkarten, Zuzugserlaubnis 3).
In Bezug auf das Lager in Mottgers 4) erinnerte sie sich an die Unterkunft am
Abend, an zugewiesene Schlafplätze auf Stroh und an die Familie von Werner Kopp. „Das war eine nette, kinderreiche Familie“, sagte sie. Als Kopps kleine Schwester Ingeborg an Tuberkulose starb, war
Martha auf der Beerdigung: „Wir wollten, dass ein paar Leute dabei sind.“
Auch der Hunger von damals ist für die 94-jährige noch präsent. Die Familie hatte zuhause in Rohle, vor der tagelangen Zugfahrt ins Ungewisse, einen Brotvorrat gebacken. Natürlich wurde nicht alles auf einmal gegessen, also schimmelte es bis zur Ankunft im Lager Mottgers. „Mit Bürsten haben meine Mutter und ich die Brote in der Sinn sauber geschrubbt“, so Martha. Sie bedauert, dass sie die Namen der Küchenfrauen, die die Brote im Lager nochmals aufbackten, nie erfahren hat. „Das war nicht selbstverständlich“, sagte sie. Die Einheimischen hätten sich den „Flüchtlingen“, wie wir Vertriebenen genannt wurden, gegenüber „ziemlich zugeknöpft“ verhalten. Oft hieß es: „Warum seid ihr hier? Ihr habt bestimmt etwas verbrochen“
Am 20. Dezember 1946 endete für die Familie die Zeit im Lager Mottgers. Sie kamen nach Sterbfritz, weil der Bauer Georg Dietz erfahren hatte, dass im Lager Mottgers Leute wären die gerne in der Landwirtschaft arbeiten wollten. Dietz fuhr mit Pferd und Wagen ins Lager und bot an, man könne auf dem Hof zwei Zimmer bewohnen und in der Landwirtschaft mithelfen. Wiesners nahmen dieses Angebot an, der Vater half in der Landwirtschaft am Hof Dietz und war auch noch bei weiteren Landwirten im Einsatz. Martha hatte zunächst Arbeit in einer Schneiderei in Elm gefunden und danach bei der Firma Rohm & Werner in Sterbfritz. Der Bruder von Martha, 16 Jahre, war oft im Stall beim Vieh, als ein Kalb erwartet wurde und Dietzens zum Essen waren, bemerkte er als erster die Geburt und meldete Diese aufgeregt mit den Worten „Chef, Chef, das Kalbel ist scho do!“ 5) Bernhard besuchte später eine Staatsbauschule in Hanau, er wollte studieren.
Martha lernte bald ihren späteren Ehemann kennen, einen Heimkehrer, der Stalingrad, Italien und Kriegsgefangenschaft überlebt hatte. Heimkehren konnte er ja nicht wirklich, denn auch er stammte aus dem Sudetenland, aus Wermsdorf. Nach der Hochzeit 1950 baute sich das junge Paar ein Haus mit Garten in Sterbfritz in der Karlsbader Straße. Hier schlossen sich vertriebenen Familien zusammen und halfen sich gegenseitig ihre Häuschen zu bauen.
„Platz zum Bewegen“ nach der Enge des Lagers. Ein Stück Land im Urwald hätten sie nicht bekommen, sagt Martha mit einem Lächeln, aber zufrieden seien sie trotzdem gewesen.
Zusammentragen der Informationen und Berichterstellung für Chronik in Zusammenarbeit mit Irmgard und Martha Rotter:
Doris Alt, Sept. 2020
Anmerkungen und Quellen: