(Bad Groß-Ullersdorf, Kreis Mährisch Schönberg)
Gedanken zur Vertreibung von Elisabeth Pfeiler geb. Stiel, die sie mit 90 Jahren auf fünf handgeschriebenen Seiten festgehalten hat.
Meine Eltern hatten in Bad Groß-Ullersdorf Nr. 116 ein Häuschen und eine kleine Landwirtschaft (drei Kühe, zwei Ziegen, Hasen, Hühner und Schweine). Mutter versorgte die Landwirtschaft, Vater ging auf die „Brettsäge“ arbeiten, Großvater auch. Oma kochte und Tante Mia ging arbeiten. Ich war ein Einzelkind, bis ich 1940 meinen Bruder Franz bekam. Er verstarb leider, wie mein Vater auch, schon mit 74 Jahren. Die Brettsäge und auch noch ein schönes Schloss, gehörten dem Fürsten Liechten-stein. Große Wälder gehörten ebenfalls zu dem Besitz und so hatten wir und auch unsere Nachbarn, Freunde und Bekannte ihr Auskommen.
Doch dann kam der unselige Krieg und das Ende mit Schrecken. Die Siegermächte stimmten zu, dass wir unsere Heimat verlassen müssen. Am 8. Mai 1945 kam die russische Armee mit all ihren Schrecken in unser friedliches Dorf. Es kam zu Plünderungen und Vergewaltigungen, zum Glück war noch ein alter Arzt da, der den Frauen manches Leid ersparte. Bad Groß-Ullersdorf besaß eine Schwefelquelle, die seit 500 Jahren von Leuten aus vielen Ländern zum Kuren genutzt wurde. Daher war ein Arzt hier tätig, der den Frauen in Not helfen konnte, wofür diese sehr dankbar waren. Im Nachbarort wurde ein Vater kurzerhand erschossen, weil er seine Tochter nicht hergeben wollte zur Vergewaltigung.
Die Russen zogen weiter, doch was danach kam war noch schlimmer, dann kamen die Plünderer, die alles nahmen, was sie wollten. Die Tschechen nahmen uns einfach die Häuser weg. In unser Haus kam ein alter Legionär aus dem 1. Weltkrieg, der sich zum Dank ein Haus aussuchen durfte, das ihm gefiel. Er wollte unser Haus. Wir bekamen ein Zimmer zugewiesen, die anderen Zimmer, auch unsere Vorräte, wurden verschlossen, so dass wir nichts zu essen hatten, aber natürlich auch kein Geld, etwas zu kaufen, wenn es mal was gab. Die Frau des Legionärs kochte sehr schöne Knödel, die ihre Familie aber nicht aß, und so landeten die Knödel in der Schweinebütte, aus der sie meine Mutter herausholte, damit wir was zu essen hatten.
Alte Männer, junge Burschen, Kinder und auch Frauen wurden in Lager gebracht und von ´jungen Partisanen´ bewacht, die mit ihnen Schlimmes anstellten. Mein Mann wusste aus einem solchen Lager zu
berichten: "Dort hing ein Schild -'Wer sich aus dem Lager entfernt, wird erschossen!' Zwei Geschwister, 17 und 15 Jahre, hatten nur 20 km nach Hause und liefen trotz Schild heim. Dem Vater
wurde gesagt, wenn er seine Jungen nicht bringe, würde das ganze Dorf erschossen. Und aus Angst brachte er sie. Sie wurden zuerst halb totgeprügelt, dann erschossen und in ein Loch
geworfen." Mein Mann musste dann in das Loch steigen und dem einen Buben die noch guten Schuhe ausziehen und den Partisanen geben. Ein Erlebnis das er sein ganzes Leben nicht verwinden
konnte.
Unsere armen drei Kühe wurden geprügelt, weil sie ja kein Tschechisch verstanden, und dann wurden sie geschlachtet. Die Russen hatten ja alle Kühe aus den Ställen geholt, um sie nach Russland zu
schaffen. Meinen späteren Mann Franz Pfeiler hatten die Russen aufgegriffen. Ausgestattet mit einem Brot und einer Wurst musste er mit den Kühen mit, die brüllten, weil sie gemolken werden mussten.
Da sich Franz in der Gegend auskannte, hat er es geschafft, sich wieder nach Hause zu schleichen. Da wir in der Au wohnten, wurden unsere Kühe übersehen und standen noch bei uns. Für die Kühe, die
nach Russland geschafft werden sollten, war es ein schlimmes Schicksal, denn bis dorthin sind die Kühe bestimmt nicht gekommen, meinten wir. Einige wenige sind angekommen, wusste ein Freund von Franz
zu berichten, der sie bis Russland begleitete und wieder zurückkam. Was die Menschen sich dabei gedacht hatten?!
Am 10. Mai 1946 erhielten wir den „Ausweisungsbefehl“, einer von den Ersten. Nicht mal Betten hatten wir in unserem Zimmer, die anderen Zimmer waren ja abgeschlossen. Ein paar Schuhe, Kleider, Töpfe und die Strohsäcke (Stroh ausgeleert) wurden mitgenommen, für alle Fälle. Wahrscheinlich waren wir bei dem Transport am 16. Mai 1946 1202 Personen, 40 Waggons der von unserer Kreisstadt Mährisch Schönberg abging - wohin? Zum Glück, wie man schon gehört hatte, nicht nach Russland, sondern „heim ins Reich … da wollten wir ja 1938 hin!“, wurde uns vorgeworfen!
Bevor wir aber in die Waggons kamen, wurde nochmal kontrolliert ob evtl. Schmuck oder andere wertvolle Sachen in unserer Habe dabei wären. Eventuell ein kleines Ringlein versteckt? Das darf nicht
mit!
Bei Prag hielt der Zug einmal an, da waren Pfähle in die Erde gerammt, damit man ´seine Notdurft´ erledigen sollte. Da kommt
mir heute noch das Grausen hoch!
An der Grenze Furth im Wald wurden wir erst mal entlaust! Die Läuse sollten nicht mit nach Deutschland. Nach einer ziemlich langen Fahrt hielt der Zug. 20
Waggons wurden abgekoppelt und blieben auf der Wegscheide stehen. Die anderen 20 fuhren weiter … nach „Sterbfritz“! So, jetzt sind wir am richtigen Ort gelandet, dachte jeder! Das ist das
„Letzte“!
Mit Pferdefuhrwerken wurden wir in das Lager Mottgers transportiert, das Herr Müller-Marschhausen so gut beschrieben hat. Ein großes Dankeschön hierfür an ihn, ich
kann das alles so bestätigen und habe es genauso erlebt. Nach ein paar Tagen wurden wir vom Lager-Mottgers auf die verschiedenen Orte im Kreis Schlüchtern verteilt. Da kann sich Jeder vorstellen, wie
sehr wir willkommen waren! Jeder wollte in Stadtnähe, wo es Arbeit gibt! Das war im Kreis Schlüchtern nicht möglich. In der damals „armen Rhön“ gab es keine Arbeit, außer im Wald die Rinde vom Holz
schälen. Aber das war besser, als nichts. Einige hatten Glück: Sie baten um eine Bleibe an der Bahnlinie und bekamen sie auch. So konnten sie mit dem Zug nach Frankfurt fahren, wo es genug Arbeit
gab. Wir kamen nach Jossa. Im Oberstock der Schule war ein Zimmer für 6 Personen frei - kein Bett, kein Ofen, kein Tisch, nichts! Zum Glück hatten wir die Strohsäcke mitgenommen. Eine Nachbarin gab
uns Stroh, das wurde rein gestopft, und so hatten wir wenigstens 4 Schlaf- und Sitzgelegenheiten.
Leider war das Klo in der Schule verstopft. Die grade abgezogenen Amis hatten es so hinterlassen.
Großvater war ein tüchtiger Schreiner und hatte sich seine wichtigsten Arbeitsgeräte von daheim mitgenommen. Er holte sich Abfallbretter und durfte bei der Nachbarin auf der Hobelbank etwas arbeiten.
So entstand mit der Zeit Bett, Stuhl, Tisch usw., und danach auch eine größere Wohnung.
Mein Vater kam vom Krieg zu uns nach Jossa und wir waren froh, dass wir alle alles einigermaßen überlebt hatten. Der spätere Sterbfritzer Pfarrer Reber wohnte erst in Jossa und vermittelte mich Anfang 1947 ins Büro der Firma Lohmann, Sägewerk und Schreinerei, da ich in der Heimat zwei Jahre Handelsschule absolviert hatte. Dann bekam auch mein Vater bei der Firma Lohmann Arbeit.
Vater wollte natürlich wieder gleich ein Häuschen bauen und hatte schon Bauplatz und Bauholz besorgt, da sagte ihm Hans Allenbrandt, der als Fahrer bei Firma
Lohmann arbeitete, er will sein Häuschen verkaufen. Vater solle sich´s mal ansehen, das wäre doch billiger und gleich bezugsfertig. So kam es: Wir bekamen Geld geborgt und das Allenbrandt-Häuschen in
der Feldstraße 5 wurde gekauft. 1954 zogen wir von Jossa nach Sterbfritz, das waren sieben Jahre jeden Tag mit dem Zug von Jossa nach Sterbfritz zur Arbeit fahren.
Vertrieben aus Nordmähren … erste Bleibe „daheim im Reich“ im Durchgangslager Mottgers … Verteilung nach Jossa in ein Zimmer oben in der Schule … nun ein Häuschen und Arbeit in Sterbfritz. Die Familie war zusammen, welch ein Glück!
Inzwischen hatte ich in Jossa schon meinen späteren Mann, Franz Pfeiler, Vertriebener aus Schwarzwasser, Kreis Freiwaldau,
kennengelernt und Freundschaft geschlossen. Er und seine Familie wohnten in Jossa in einer Baracke hinter der zerstörten Eisenbahn-Brücke. Sie waren Steinmetze und wohnten dort mit fünf weiteren
Familien, die von der Bahn angeworben wurden, um die Brücke wiederaufzubauen. Sie war die Verbindung zwischen Würzburg und Fulda und für die Bahn sehr wichtig.
Nach Fertigstellung der Brücke kam die Währungsreform (1948), die Bahn hatte kein Geld mehr und alle Steinmetze wurden entlassen. Da suchte ein Schulfreund
meines Freundes, der sich in Pforzheim selbstständig machen wollte, Steinmetze. Pforzheim war durch Bombardierung total kaputt.
Mein Freund entschloss sich, nach Pforzheim zu gehen und ich sollte mit. Mutter war das gar nicht recht, wir aber heirateten 1954 und ich ging mit ihm nach Pforzheim. Mein Bruder ging inzwischen nach
Altengronau in die Mittelschule und wollte nach dem Abschluss Elektriker lernen. Leider fand er nirgends eine Lehrstelle. So entschloss ich mich, meinen Bruder nach Pforzheim zu holen. Dort fand er
sofort eine Lehrstelle und lernte Elektriker.
Sehr bald lernte er auch eine nette Freundin kennen, deren Familie in Pforzheim wohnte, aber aus der Batschka (Jugoslawien) stammte. Ihre Familie hatte mit den Jugoslawen viel mitgemacht. Als
Dreijährige kam sie in das, wie sie sagte, „Todeslager“ (Gakowa, Kruschiwl und Rudolfsgnad). Die Familien wurden getrennt: die Männer kamen nach Russland; Frauen, Kinder und Alte blieben. Sie mussten
drei Jahre in den Lagern verbringen, das Schicksal aller Deutscher, die Minderheiten waren, außer uns Sudetendeutschen in der Tschechei, in Jugoslawien, Rumänien und Ungarn.
Mein Bruder heiratete seine Freundin, machte die Meisterprüfung, baute ein Haus und bekam vier Kinder. Geheiratet wurde in Sterbfritz, sein Freund Willi Koch und mein Vater waren Trauzeugen.
Feiertage und Ferien wurden ebenfalls in Sterbfritz verlebt und die Kinder können sich noch gut erinnern, von Hilde Mack Schwimmunterricht bekommen zu haben.
Eigentlich wollten wir ja die Eltern und die Tante zu uns nach Pforzheim holen, aber das war nicht möglich. Sie wollten nicht von „ihrem Häuschen“ weggehen und wurden schon krank, wenn sie drei Tage bei uns bleiben sollten. Sie waren in Sterbfritz heimisch geworden, hatten sich eingelebt in ihrer „neuen“ Heimat!
Durch einen Sturz meiner Tante und der damit verbundenen Notwendigkeit von Pflege und Unterstützung meiner Familie wurde Sterbfritz, nachdem ich 1988 in Rente ging, auch wieder mein „Daheim in Sterbfritz“ und das hat sich bis heute nicht geändert. Eine schöne Zeit: Heimattreffen im Hause Stiel, schöne Zeit mit dem Rhönklub und dessen Ausflügen, Freundschaften beim Seniorenturnen des Turnvereins – das alles hielt mich fit, und ich wagte es, mit 60 Jahren noch das Autofahren zu lernen, und machte den Führerschein.
Inzwischen ist die Generation, die durch die Vertreibung am meisten betroffen war, verstorben. Das Häuschen erbten 1994 mein Bruder und ich. Mein Bruder ließ es schön herrichten. Weil er ja schon
älter war, wollte er von Sterbfritz aus mit kleinen Reisen und Besichtigungen das Rentnerdasein genießen. Leider verstarb er 2014 plötzlich an Herzinfarkt, für uns alle ein großer Schock. Seine drei
Söhne haben alle Elektriker gelernt und haben heute miteinander eine Elektrofirma in einem Dorf bei Pforzheim.
Das ist nun auch ein Vertriebenen-Schicksal: Meine Eltern haben geglaubt, wenn sie ein Häuschen in Sterbfritz haben, werden die Nachkommen hier sesshaft werden - es kam ganz anders.
Wir kommen aber alle noch gerne nach Sterbfritz, machen von hier Ausflüge in die Rhön, haben noch Freunde hier. So weiß man nicht, wie es weitergeht, ob die Vertriebenen-Familie nur eine kurze Spanne in Sterbfritz gelebt hat, oder, ob es vielleicht mal einen Nachkommen wieder hierher zieht?
Wer weiß?
Eure Else Pfeiler geb. Stiel
Die Erinnerung einer 90-jährigen,
die ihre Jugenderinnerung mit einem Besuch in Tschechien zurückholen wollte-
-von Else Pfeiler geb. Stiel-
Es fing damit an, dass mein Neffe 2018 in Prag Urlaub machte, anrief und fragte, wie weit es bis Groß-Ullersdorf wäre. Nochmal so weit wie nach Prag, sagte ich. „Da
fahr ich hin!“, entschied er. Er war mit seinem Vater, Familie und Verwandten vor 20 Jahren schon mal dort, hatte das Haus noch in Erinnerung und fand es auch gleich. Er traute sich aber nicht
hinein. Meiner Tochter und ihrem Mann erzählte er das Erlebnis, die waren begeistert und beschlossen: „Das machen wir auch! Wir nehmen aber unsere Mutter, die Oma mit. Sie ist zwar schon 90 Jahre,
aber sie hat da bis zur Vertreibung gelebt und ist noch nicht dement.“ Ich war wirklich einverstanden und da ich nicht mehr gut zu Fuß war, wurde ein Rollstuhl mitgenommen, den der Enkel schieben
musste, was auf den tschechischen Pflasterstraßen nicht einfach war.
Über Prag fuhren wir nach Ullersdorf. Ich hatte noch alles in Erinnerung, sah im Geiste die Vorderstraße, Hinterstraße, Gassen, Brücken, Stege und Häuser - viele mit Namen.
Vor 20 Jahren war ich ja schon mal mit dem Rhönklub da gewesen, doch jetzt war vieles anders: Häuser - verfallen, abgerissen oder neu gebaut; Wege - anders, viel anders als in meiner Erinnerung. Ich war sehr enttäuscht, fand mich nicht zurecht. War das noch meine alte Heimat? Ist es die „Neue Heimat“ für ihre jetzigen Bewohner? Es gab kein gegenseitiges Verständigen, das stimmte mich schon sehr traurig.
Ein Lichtblick waren die jetzigen Besitzer unseres Hauses. Sie baten uns in ihr (unser) Haus und wir konnten alles besichtigen, mit Stall und Garten. Ganz anders war das in Schwarzwasser. Der heutige Besitzer des Elternhauses meines Mannes ließ uns stehen und ging ohne Worte weg in sein Haus.
Dann lernten wir noch einen „Daheimgebliebenen“ kennen, der uns in Schönberg ins Altenheim zu meiner Schulfreundin Erna führte. Wir beide haben sofort in unserem Dialekt deutsch gesprochen, sie konnte es noch! Das war der zweite Lichtblick unserer Reise. Meine Jugendzeit konnte ich nicht nochmal zurückholen, es bleibt nur die Erinnerung und die Rückkehr in die „Neue Heimat“!
(Die Erinnerung an diese Reise ist im „Mein Heimatboten“ - unabhängiges Heimatblatt aus Kreis Mährisch-Schönberg und Altvatergebiet - 1/2019 Jan./Febr.“ gedruckt worden)
Quellen:
erstellt April 2019